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INTERVIEW„Deutschland — das ist Europa“

■ Gespräch mit sowjetischen Juden, die im Park vor der deutschen Botschaft in Moskau lagern und auf ihre Visa-Bescheide warten

taz: Sind Sie Moskauer?

A.J.: Aus Saratow.

Warum wollen Sie ausreisen?

Weil das Leben hier sehr gefährlich werden wird. Das Scheitern der Perestroika-Politik wird zu einem rapiden Anwachsen des Antisemitismus führen.

Ist das ein Antisemitismus im Alltag? Beleidigungen, Zurücksetzungen?

Von den staatlichen Organisationen, Schwierigkeiten auf der Arbeit, bei der Karriere. Im übrigen, die Situation hat sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert.

Warum wollen Sie ausgerechnet nach Deutschland?

Die USA sind weit und Deutschland, das ist Europa, dort muß man seinen Lebensstil nicht vollkommen ändern.

Wissen Sie, daß in Deutschland sechs Millionen Juden ermordet worden sind? Stört Sie das Wissen darüber nicht?

Doch, aber ich denke, daß in Rußland, nicht ohne die Mithilfe unseres Volkes, viel mehr Menschen umgebracht wurden. Wir sind also nicht viel besser als die Deutschen.

Wie ist das zu verstehen?

Nach der Oktoberrevolution waren viele Juden in führenden Positionen, vor allem in den Straforganen. Von diesen Verbrechen können wir uns nicht reinwaschen.

Fühlen Sie sich als Jude persönlich mitverantwortlich für das Geschehen?

Natürlich. Und das russische Volk wird diese Rechnung unbedingt begleichen.

Meinen Sie, daß es in Deutschland jetzt keinen Antisemitismus gibt?

Es gibt ihn. Aber die Öffentlichkeit geht kritisch damit um.

Wollen Sie auch ausreisen?

N.B.: Ich bin wegen meiner Eltern hier, die nach Deutschland wollen, weil Sie vor der militärischen Bedrohung in Israel Angst haben. Wenn Sie meine Meinung wissen wollen: Die Juden gehören nach Israel und nur nach Israel. Für mich ist es moralisch sehr schwer, nach Deutschland auszureisen. Fast unsere gesamte Familie ist in deutschen Konzentrationslagern umgekommen. Doch die Eltern wollen nach Europa.

Und warum wollen Sie nach Israel?

R.G.: Es ist die Heimat der Juden.

Sind Sie Jüdin? Spüren Sie die Zunahme des Antisemitismus?

Ich spüre sie mein Leben lang. Sogar mein Mann, der Russe ist, bekommt es zu spüren, weil er eine Jüdin zur Frau hat.

Ist das ein Antisemitismus seitens der Nachbarn oder auf der Arbeit?

Nein, die Nachbarn sind es nicht. Aber überall bekommt man zu hören: Fahrt doch nach Israel. Aber wissen Sie, mein Vater ist im Krieg umgekommen. Und mein Sohn will nicht auswandern, er ist der Meinung, nur unkultivierte Leute beschäftigen sich mit nationalen Fragen.

Wollen Sie schon lange auswandern?

Seit diesem Jahr. Die Situation hat sich extrem verschlechtert. Die nationalen Zwistigkeiten sind in allen Republiken unerträglich geworden, der ökonomische Zerfall, das Auseinanderbrechen aller Beziehungen, alles ist von den Füßen auf den Kopf gestellt, das Leben hier ist einfach unmöglich geworden. Man läuft barfuß und bittet um Erlaubnis, sich anstelle von Zigaretten Socken kaufen zu dürfen — das ist nicht einfach eine Verletzung der Menschenrechte, das ist erniedrigend. Hier besteht einfach die Gefahr, daß man uns umbringt. Hier werden alle alle umbringen, das ist ein unzivilisiertes Land.

Und Sie, warum reisen Sie aus?

F.D.: Hier gibt's keine Ordnung. Das ist ein Axiom. Unser Volk ist zu Ordnung nicht fähig. Ich liebe dieses Volk und kann die Deutschen nicht ausstehen.

Kennen Sie denn Deutsche?

Ich bin dort gewesen...

Vielleicht haben Sie gegenüber den Deutschen ebensolche Vorurteile wie die Deutschen gegenüber den Juden oder den Polen?

A.J.: So darf man nicht über Nationen urteilen, die Menschen sind schließlich verschieden. Die Deutschen haben viel Positives, sie sind ein diszipliniertes, zivilisiertes Volk, in vierzig Jahren haben sie's zu einem wohlhabenden, hochentwickelten Land gebracht...

F.D.: Kaltschnäuzig sind sie, helfen keinem.

A.J.: Aber sie nehmen uns doch auf, wieso dann kaltschnäuzig...

F.D.: Ich fühle mich in Deutschland nicht wohl. Meine Mutter kann sowieso nicht ohne den Moskauer Trubel leben.

Warum reisen Sie dann aus?

F.D.: Hier gibt es Mängel, mit denen man sich einfach nicht abfinden kann... hier kann man nicht leben, das ist doch einfach Tatsache — hier wird's nie Ordnung geben. Dann schon lieber nach Deutschland.

Sind Sie Jude?

Ich bin kein Jude, aber alle Juden sehen so aus wie ich.

Und Sie, Sie kommen aus Baku? Sind Sie wegen der Kriegssituation geflohen?

L.O.: Ich reise nicht aus, um besser zu leben, ich bin Flüchtling. Es ist sehr schwer, an einem Ort zu leben, wo du jede Minute darauf gefaßt sein mußt, daß die Ereignisse sich um 180 Grad wenden. Baku war die beste Stadt in der Union, was das Verhalten gegenüber den Juden anbelangt. Es gab einfach keinen Antisemitismus. Jetzt haben sich die nationalen Auseinandersetzungen wie in allen Republiken zugespitzt. Sie können sich das nur schwer vorstellen. Du gehst auf der Straße und siehst kein bekanntes Gesicht. Da kommt so ein Gefühl von Verlorenheit, von Sinnlosigkeit auf...

Warum wollen Sie nach Deutschland und nicht nach Israel?

Alle meine Freunde sind nach Deutschland gegangen. Ich will nicht in Israel leben, weil ich weiß, was das heißt, Naher Osten, ich bin schließlich aus Aserbaidschan. Ich will nach Europa.

Interessieren Sie sich für die jüdische Religion?

J.L.: Ja, ich gehe in die Synagoge... „Wolken, ihr schweifenden, niemals verweilen“ — das hat ein russischer Dichter geschrieben. Die Juden sind ewig Gejagte, es tut weh, das zu erkennen.

Woher kommen Sie, Gejagter?

Aus Bessarabien.

Gibt es auch dort Antisemitismus?

Es gab ihn immer. Schon 1905 kam es zu fürchterlichen Pogromen.

Haben Sie auch ganz persönliche Gründe fortzugehen?

Also stellen Sie sich mal vor, früher... Ich komme aus dem Schtetl. Hier, das sind Residenzjuden, aber ich bin aus dem Schtetl, also früher... Du gehst in die Schule, unter den Lehrern sind Juden, im Krankenhaus sind die Ärzte Juden. Die Seele hatte ihre Ruhe. Jetzt kommst du ins Krankenhaus und die starren dich an, wie ein Kaninchen. Du fühlst dich einfach nicht mehr sicher. Die Leute, die dageblieben sind, haben die Kontrolle über sich selbst verloren und denken, alles sei erlaubt. Ich habe Angst; jeden Moment können sie dir die Tür einschlagen und reinkommen.

FWarum gehen Sie nach Deutschland?

Das ist schwer zu erklären, das kann man nicht so einfach sagen... Die Leute wollen in ein zivilisiertes Land. Keiner will hier bleiben. Der Jude sollte dort leben, wo sein Volk lebt, wo seine Vorfahren gelebt haben. Ich bin eigentlich eher ein schwacher Mensch. Deshalb gehe ich nach Deutschland.

Haben Sie Vorfahren in Deutschland?

Nein.

Aber unsere Ahnen sind osteuropäische Juden, sie haben nie in Israel gelebt. Vor Hunderten Jahren kamen sie aus Deutschland. Die Juden haben niemals dort gelebt, wo ihre Vorfahren gelebt haben, und dort, wo sie lebten... „Wolken ihr schweifenden, niemals verweilenden...“

Sind Sie aus Moskau? Warum wollen Sie nach Deutschland?

O.F.: Es ist öde geworden. Viele Bekannte sind ausgewandert. Musiker, kreative Leute, die Atmosphäre ist provinziell geworden. Die Arbeit auch...

Warum ausgerechnet nach Deutschland?

Wohin denn sonst noch? Als Jude bin ich in gewissem Maße auch ein Antisemit. Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie man leben soll, wenn ringsrum nichts als Juden sind. Ich würde mich nie als Jude fühlen, hätte mich nie als Jude gefühlt, wäre nicht der Antisemitismus... Aber eigentlich gibt's gar keinen Antisemitismus, es ist einfach so, daß man hier nicht mehr leben kann. Die Gespräche führte

Sonja Margolina

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