INTERVIEW: „Ich bin froh, daß die Leute Laut geben“
■ Dr. Wolfgang Ullmann, Bundestagsabgeordneter für die Grünen/Bündnis 90, zu den neuen Montagsdemos
taz: Sehen Sie in der Tatsache, daß die Bürger in den neuen Bundesländern verstärkt wieder auf die Straße gehen, eine Tendenzwende? Wird in Leipzig an die Tradition der Montagsdemonstrationen angeknüpft?
Wolfgang Ullmann: Das kann man zum heutigen Zeitpunkt noch nicht beurteilen. Ich bin aber froh darüber, daß die Leute Laut geben. Es gibt hier in Bonn immer noch zu viele, die sich Illusionen machen. Ich hatte zeitweise den Eindruck, daß der Kanzler auch begriffen hat, daß irgendwas anders werden muß. Jetzt scheint er allerdings wieder ganz auf altem Kurs zu sein, sich auf die Taktik des Aussitzens zu verlegen. Dann ist es gut, wenn die Leute sagen: So geht's nicht.
Wer demonstriert denn heute? Sind das auch Teile der alten Bürgerbewegung?
Nein, das sind jetzt überwiegend Arbeitslose.
Hat die Bürgerbewegung vor, sich in den jetzt laufenden Prozeß neu einzumischen?
Gewiß, indem sie einerseits den Leuten hilft, sich zu artikulieren, andererseits, und das ist ja mittlerweile unsere Aufgabe hier im Parlament, mit konstruktiven Vorschlägen präsent zu sein, was zu geschehen hat.
Mit welcher Zielsetzung aber wird nun demonstriert? In Bonn ist ja bekannterweise einiges zur besseren Finanzierung der neuen Bundesländer beschlossen worden, es wird Steuererhöhungen geben. Angeblich fließen ja jetzt die Gelder in Richtung Osten. Wohin gehen also die Forderungen der Demonstranten?
Das geht bis zur Forderung — so war das gestern jedenfalls auf der Protestkundgebung in Berlin — die Bonner Regierung abzulösen. Die schwache Seite der Demonstrierenden ist, daß sie nicht klar ausdrücken, was sie wollen. Aber ich denke, das ist auch die Aufgabe der Politiker zu sagen, dies oder jenes muß geschehen. Die Leute formulieren zunächst einmal: Das, was jetzt geschieht, wollen wir nicht.
Wie reagiert denn die Regierung in Bonn auf die neuen Massenproteste?
Zunächst wiegte man sich hier ja in Selbstzufriedenheit, als man diese Milliardenbeträge auf den Zettel geschrieben hatte. Ich halte das nicht für eine angemessene Antwort auf die angerichteten Schäden. Es hat ja keinen Zweck, Unmassen von Geld auf einen Haufen zu schütten nach dem Motto: Nun bedient euch.
Was wäre Ihrer Meinung nach eine angemessene Antwort?
Zum Beispiel schleunigst Parlament und Regierung nach Berlin zu verlegen. Dann wüßten sie von ganz alleine, wie es dort aussieht. Zweitens müßte das untaugliche Energiekonzept gekippt werden, daß die Kommunen wirtschaftlich in die Ecke stellt, und schließlich sollte die Eigentumsfrage in einer vernünftigen Weise und nicht in Form eines Prinzipienstreits angegangen werden, nicht von Reparaturgesetz zu Reparaturgesetz zu stolpern.
Wie geht in Bonn die CDU mit den neuen Meinungsumfragen um, wonach der Grad ihrer Beliebtheit vor allem im Osten stark nachgelassen hat?
Zumindest die Ostabgeordneten reagieren so darauf, daß sie in hohem Maße die selben Forderungen stellen wie wir. Das ist sehr markant, daß hier offensichtlich ein Riß durch die CDU geht. Die Abgeordneten aus den neuen Ländern kritisieren ihre eigene Partei. Interview: Barbara Geier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen