INTERVIEW: „Ich möchte nicht, daß hier eine Hexenjagd einsetzt“
■ Interview mit dem neuen Rektor der Universität Leipzig, Prof. Cornelius Weiss
taz: Die Leipziger Universität hat durch die Abwicklungsdiskussion und ihre Folgen spürbar an Attraktivität verloren. Studenten und Wissenschaftler zieht es in den Westen oder zumindest dorthin, wo die Zukunft sicherer erscheint. Wird Leipzig einmal eine drittklassige Universität besitzen?
Prof. Cornelius Weiss: Der Ansehensverlust hat nicht so sehr damit etwas zu tun, daß Studenten oder Lehrkräfte abwandern, sondern stammt noch aus der Zeit, da die Leipziger Universität von einem autonomen geistigen Zentrum in eine sogenannte Kaderschmiede umgewandelt wurde. Daneben waren die materiellen Voraussetzungen für wissenschaftliche Leistungen nicht gerade sensationell. Und dann verlor die Universität durch ihre Zurückhaltung in den bewegten Zeiten des Herbstes viel Ansehen. Es gab lediglich einige Aufrufe, nicht zu den Demonstrationen zu gehen, und eine Art Kampagne für den Heym/Wolf-Aufruf. Nach ein oder zwei Frühschoppen mit dem Rektor setzte diese Art Lähmung ein. Es drang nichts mehr nach außen. Wie das Kaninchen vor der Schlange sah die Universität der Entwicklung zu.
Aber es ging auch um Dinge, die wir nutzen können. Das sind die Standortvorteile und unsere sehr guten vertraglichen Beziehungen in die östlichen europäischen Staaten sowie die Länder der Dritten Welt. Vielleicht können wir dazu beitragen, in der Wissenschaft und Lehre den sich abzeichnenden Nord-Süd-Konflikt bewältigen zu helfen. Solche Voraussetzungen hat nicht jede Universität in den alten und neuen Bundesländern.
Die Stadt ist natürlich in materieller Hinsicht für Studenten nicht attraktiv, weil sie arm ist. Das Land Sachsen ist arm, und auch die Universität wird relativ arm sein. Aber entscheidend ist doch das geistige Leben. Wo gibt es denn berühmte Orchester in einer solchen Dichte wie in Leipzig? Da hat gerade Leipzig einiges zu bieten.
Ihr Amtsvorgänger und jetziger Prorektor Leutert mußte sich wegen seiner versöhnlerischen Haltung gegenüber dem Abwicklungsbeschluß harte Vorwürfe von Studenten gefallenlassen. Hätten Sie an seiner Stelle anders gehandelt?
Das vorangegangene Rektorat hatte mein volles Vertrauen. Man konnte nicht zuviel erwarten. Man kann nicht die Mißwirtschaft von 40 Jahren, die Herrschaft verschiedener totalitärer Regime von fast 60 Jahren innerhalb von neun Monaten bewältigen. Ich glaube nicht, daß man an der Amtseinführung dieses Rektorats schwerwiegende Kritik üben kann. Tatsächlich war die Abwicklung offensichtlich die Notbremse, die der Minister gezogen hat, nachdem sich von innen heraus an der Uni zuwenig entwickelt hat. Das kann man nicht dem Rektorat, sondern nur den Strukturen selbst anlasten.
Sie selbst sind Mitglied der Initiativgruppe zur demokratischen Erneuerung an der Universität. Diese Gruppe wollte genau das, was durch den Wissenschaftsminister verfügt wurde. Empfinden sie nicht angesichts dieser Entwicklung persönliches Versagen?
Diese Initiativgruppe war durch niemanden gewählt und durch niemanden legitimiert. Wir fragten uns, was aus dem 89er Aufbruch geworden ist. An der Universität offenbar nichts. Die Leipziger Universität, wie immer reaktionär, wartete ab. Wir konnten nur an die Vernunft und das Gewissen der Betroffenen appellieren, anderen, unbelasteten Leuten Platz zu machen. Juristische Vollmachten besaßen wir nicht. Ich habe gehofft, daß durch solche Appelle etwas zu ändern ist. Tatsächlich ist gar nichts passiert.
Sie sind Direktor der Sektion Chemie. Ihr Bereich ist von der Abwicklung nicht betroffen wie auch die anderen naturwissenschaftlichen und medizinischen Strukturen nicht. Gibt es dort nichts zu verändern?
Ich sehe mit Schrecken, daß in den nichtabgewickelten Bereichen jetzt haargenau das gleiche passiert wie bei den Geisteswissenschaften. Ein Dutzend Klinikchefs hatte gehofft, legitimiert zu werden. Als das schiefging, erklärten sie wie die kleinen Kinder, das gilt nicht — „weil Reinigungskräfte und andere Dahergelaufene, die keine Ahnung haben“, mitgestimmt hätten. Das sind alles Ausreden.
Ich fordere tatsächlich, daß im medizinischen und naturwissenschaftlichen Bereich eine genaue persönliche Prüfung eines jeden Hochschullehrers vorgenommen wird. Wir werden unserer moralischen Verantwortung nicht gerecht, wenn wir Leute, die ihre Haltung wechseln wie das Hemd, weiter an die Vorlesungspulte lassen.
Sie haben als eine Ihrer wichtigsten Aufgaben bezeichnet, eine menschliche Lösung der Personaldebatte zu finden. Was heißt das?
Ich meine damit, daß man sich jeder Pauschalisierung enthält, daß man Überzeugungen nicht zum Anklagepunkt macht. Ich möchte nicht, daß hier eine Hexenjagd einsetzt. Ich möchte nur, daß diejenigen, die die Karre in den Dreck gesetzt haben, mir nicht unbedingt dabei helfen, sie wieder herauszuholen.
Diese Pauschalisierungen, gegen die Sie sich wehren, sind vor allem aus Äußerungen mancher Ihrer Kollegen zu entnehmen, die jetzt frohlocken und so tun, als seien sie schon immer gegen das Regime gewesen. Ist die Kluft zwischen den Naturwissenschaftlern auf der einen und den Geisteswissenschaftlern auf der anderen Seite inzwischen schon nicht mehr zu überbrücken?
Ein gewisses Nichtverstehen zwischen Natur- und Geisteswissenschftlern war historisch schon immer zu beobachten. Von cleveren Machthabern, und das war in den letzten Jahren auch bei uns so, wurde dieser Graben gern vertieft. Teile und herrsche, das funktionierte schon recht gut. Hinzu kam, daß wir Naturwissenschaftler uns häufig von den ML-Lehrern vergewaltigt fühlten. Es war einfach entsetzlich, wie uns im Lehrgang „Sozialistische Militärpolitik“ der Geruch frischgeputzter Schaftstiefel und der aufbauende Charakter des deutschen Stechschritts vorgeschwärmt wurde. Aber ich glaube, daß es auch in den Naturwissenschaften echte Opportunisten gab, die das System anerkannt und zum eigenen Vorteil gestützt haben. Manchmal hatte ich sogar den Eindruck, daß die Geistes- und Sozialwissenschaftler mehr Zivilcourage bewiesen. In Rohrbach, wo die ML-Intensivkurse stattfanden, hörte man von ihnen in den letzten fünf, sechs Jahren sehr kritische Töne. Dort ist auch passiert, daß drei Naturwissenschaftler Kollegen, die sich kritisch äußerten, bei der SED-Kreisleitung angeschwärzt haben wegen fehlender Wachsamkeit und revisionistischem Verhalten.
Welchem politischen Denken fühlen Sie sich nahe?
Einer etablierten Linie kann ich nicht folgen. Mich haben der Krieg und mein Elternhaus geprägt. Mein Patenonkel, Pfarrer Poelchau, war Gefängnispfarrer in Tegel und hat ungefähr 2.000 Hinrichtungen miterleben müssen. Sein Einfluß auf mich war ungeheuer groß. Man könnte ihn als religiösen Sozialisten bezeichnen, eine Geisteshaltung, der auch ich mich verbunden fühle. Wichtig für mich war aber auch, daß ich neun Jahre in der Sowjetunion gelebt habe. Mein Vater arbeitete dort als Kernphysiker, und das hat unserer Familie sieben Jahre hinter Stacheldraht eingebracht. Ich weiß also, wie Unfreiheit auf einen Menschen wirkt. Dort habe ich gelernt, daß materieller Wohlstand nicht das allein Seligmachende ist.
Sie sagten nach Ihrer Wahl auf dem Konzil, daß sie sich eine kritische Studentenschaft wünschen und gebrauchten sogar in diesem Zusammenhang das Wort vom zivilen Ungehorsam. Stellen Sie sich damit demonstrativ gegen die CDU-Landesregierung?
Die meisten Regierungsmitglieder in Sachsen sind Menschen genauso wie Sie. Wir dürfen uns nicht, nur weil sie jetzt die Regierungsgewalt ausüben, in einen Gegensatz um jeden Preis hineinsteigern. Wir müssen ihnen natürlich auf die Finger sehen und sie kontrollieren, aber wir sollten doch erst einmal davon ausgehen, daß das unsere Leute sind und ihnen einen gewissen Vertrauensbonus zubilligen. Die Studenten sollten ihre Stimme erheben, wenn sie spüren, daß irgendwo Unrecht geschieht, speziell natürlich an der Universität. Ihre Mitarbeit muß aber konstruktiv sein. Rebellion um der Rebellion willen mag ich nicht. Ich erwarte von den Studenten zivilen Ungehorsam, solange er rechtsstaatlich und konstruktiv gedeiht. Interview: Carsten Heller
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