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INTERVIEW„Die Serben bleiben zusammen“

■ Mihajlo Marković, marxistischer Philosoph, Ex-Dissident und heute Vize der serbischen Regierungspartei, über die Zukunft Jugoslawiens

Der Philosoph Mihajlo Marković gehörte Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre zur Dissidentengruppe der kritischen Marxisten um die Zeitschrift 'Praxis‘. Zusammen mit weiteren sieben Professoren wurde er 1975 aus der Belgrader Universität relegiert. Im vergangenen Jahr trat er Milosevics Sozialistischer Partei Serbiens (Nachfolgepartei des regierenden Kommunistischen Bundes) bei, die eine aggressiv nationalistische Politik verfolgt, und wurde deren Stellvertretender Vorsitzender. Marković gehört auch zu der Gruppe der konservativ-nationalen Belgrader Akademiemitglieder, die vermutlich Milosevics Politik im wesentlichen konzipieren.

taz: Herr Marković, Sie sind der stellvertretende Vorsitzende der neukonstituierten Sozialistischen Partei Serbiens. Was waren Ihre Motive für ein direktes politisches Engagement? Welche Rolle spielen dabei Ihre theoretische Arbeit, der Marxismus und die sogenannte „'Praxis‘-Philosophie“?

Mihajlo Marković: Seit früher Jugend bin ich bin Anhänger demokratisch-sozialistischer Ideen. Mein Großvater und mein Vater waren auch aktive Sozalisten. Mit 18 Jahren nahm ich an dem Volksbefreiungskampf teil und war Offizier in der Partisanenarmee. Meine theoretischen Überzeugungen entwickelten sich während des Studiums der Philosophie in Belgrad und London. Außer marxistischer Philosophie habe ich vor allem die liberalistische politische Philosophie erforscht (und beide an amerikanischen Universitäten gelehrt). Daher meine Bemühungen um eine Synthese von Sozialismus und Liberalismus, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Man darf nicht vergessen, daß die theoretische Orientation um die Zeitschrift 'Praxis‘ immer die des demokratischen Sozialismus war. Mein jetziges politisches Engagement ist das Ergebnis der Einsicht, daß die jugoslawische Gesellschaft sich in einer tiefen Krise befindet und vor einem schicksalhaften Scheideweg steht.

Hat der Zusammenbruch des Sozialismus keine Relevanz für die politischen Entwicklungen in Serbien und Montenegro?

In Osteuropa ist ein autoritäres Einparteiensystem zerfallen, das wenig gemeinsam mit der sozialistischen Traditon von Proudhon über Marx bis Rosa Luxemburg, Gramsci und Korsch hatte. Nach dem Konflikt mit Stalin 1948 sind wir in Jugoslawien andere Wege gegangen. Heute versuchen wir, in Serbien und Montenegro eine moderne demokratische Form des Sozialismus zu entwickeln.

Bereits im Krieg haben wir haben eine massive Unterstützung im Volk erhalten, und es ist uns gelungen, diese Unterstützung bis heute, bei den freien Wahlen im vorigen Dezember zu bewahren. Wir waren immer unabhängig. Bereits seit 1965 entwickeln wir die Marktwirtschaft. Da die Zeitgeschichte bei uns und in anderen Ländern Osteuropas verschieden war, so ist es selbstverständlich, daß für uns nicht die gleichen Strukturen und Rhythmen für Veränderungen gelten.

Weshalb ist es Ihrer Meinung nach überhaupt zum Zusammenbruch der sozialistischen Systeme gekommen?

Aus zwei Gründen. Der erste liegt darin, daß diese Systeme den Bürgern nicht genügend Freiheiten gaben. Der zweite ist, daß man nach einem erreichten Stand der gesellschaftlichen Entwicklung Wirtschaft und Kultur nicht mehr erfolgreich von einem Zentrum her verwalten kann.

Unser Projekt des Sozialismus meint volle Wahrung der Menschenrechte, politischen Pluralismus und freie Wahlen, gleichen rechtlichen Status aller Eigentumsformen, ein Minimum an staatlicher Regulation der Marktwirtscahft und ein befriedigendes Niveau sozialer Sicherheit.

1968 kam es auch in Belgrad zu Studentenunruhen. Sie waren damals auf der Seite der Demonstranten. Als jüngst Belgrader Studenten wieder protestierten und die Demokratisierung der Gesellschaft forderten, haben Sie sowohl die Bewegung als auch die oppositionellen Parteien verurteilt, in denen Ihre Freunde von 1968 führende Positionen haben. Wie erklären Sie das?

Die Studentenbewegung von 1968 basierte auf allgemeinen humanen Werten und setzte sich für emanzipatorische Änderungen der ganzen jugoslawischen Gesellschaft ein. Im März 1991 haben die rechten Parteien berechtigte Forderungen der Studenten nach Demokratisierung der öffentlichen Informationsinstitutionen für sich ausgenützt, um durch den Aufruhr auf den Straßen das zu gewinnen, was sie bei den demokratischen Wahlen im Dezember 1990 verloren hatten.

Nach den dramatischen Ereignissen in Belgrad und einer extremen Polarisierung der politischen Kräfte in Serbien kam es doch zum Kompromiß. Wer hat ihn mit Milosevic ausgehandelt?

Zum Kompromiß kam es durch Besonnenheit und Vernunft auf beiden Seiten: auf der einen die Kräften in der regierenden Partei, die die Forderungen der Studenten als berechtigt ansahen, auf der andern diejenigen oppostionellen Abgeordneten, die eingesehen haben, daß überzogene Forderungen und der Versuch des gewaltsamen Regierungsumsturzes tragische Folgen für alle haben könnten.

In allen Ländern des ehemaligen Sozalismus ist der Nationalismus stark angewachsen. Sie reden auch vom serbischen nationalen Interesse. Worin besteht dieses?

Das nationale Interesse des serbischen Volkes schließt zwei elementare Sachen ein: Erstens, alle Teile des serbischen Volkes, die in Jugoslawien leben, wollen in einem Staat bleiben — in Jugoslawien oder einem Staat, der sich konstituieren würde, wenn sich einige Völker von Jugoslawien abtrennen würden. Weil sie das Recht auf Selbstbestimmung bis zur Abtrennung allen anderen Völkern zugestehen [und den Albanern im Kosovo, deren Autonomierechte Milosevics Serbien kurzerhand kassiert hat!?! d.S.] meinen die Serben, daß dieses Recht auch für sie gültig ist. Das heißt, daß diejenigen, die sich abtrennen wollen, die Territorien, auf denen Serben mehrheitlich leben, nicht mitnehmen können. Zweitens, wenn Jugoslawien bestehen bleibt, dann ist ein wesentliches Interesse der Serben, gleichberechtigt mit anderen Völkern zu sein. Diese Gleichberechtigung hat es für das serbische Volk von 1945 bis 1990 nicht gegeben.

Halten Sie eine Intervention der Armee angesichts der Krise Jugoslawiens für möglich? Wäre sie unter Umständen akzeptabel?

Die jugoslawische Armee kann nicht und — davon bin ich überzeugt — wird auch nicht intervenieren, um in irgendeiner Republik die Ordnung, die durch freie Wahlen entstanden ist, zu ändern oder die Völker (das slowenische, kroatische, bosnisch-moslemische, serbische oder makedonische) [und wo bleiben die Albaner?? d.S.] an der Abtrennung von Jugoslawien zu hindern. Im Gegensatz zu Spekulationen in der ausländischen Presse kann die einzige Rolle der Armee die Bewahrung der Ordnung und Verhinderung von Gewalt und Bürgerkrieg in Teilen Jugoslawiens (vor allem in der kroatischen Krajina und in Kosovo) [Aha!!] sein.

Die katastrophale wirtschaftliche Lage läßt baldige massive soziale Unruhen erwarten. Wie will Ihre Partei die sozialen Probleme bewältigen?

Zu sozialen Revolten wird es sicherlich nicht kommen, zumindest nicht in Serbien und Montenegro, wenn die Regierungen in diesen Republiken den Bürgern ihren Vorschlag zur Lösung der gegenwärtigen Krise rechtzeitig präsentieren. Das Hauptziel ist es, den Fall des gesellschaftlichen Bruttoprodukts zu verhindern und einen neuen Investitionszyklus in Gang zu setzen. Angesichts der niedrigen Verschuldung Serbiens (600 Dollar pro Kopf in Serbien im Unterschied zu 2.100 Dollar pro Kopf in Ungarn), kann Serbien mit Auslandskrediten und ausländischem Kapital sowie durch Benutzung der erheblichen Sparvermögen der Bürger — etwa durch Verkauf von Obligationen mit hoher Verzinsung — und Einsparungen in Staatskosten die Investitionen schaffen. Mit einem neuen Gesetz werden die Ausgaben für einen sehr teuren Staatsapparat erheblich gesenkt. Diese Umorganisierung wird nicht nur positive ökonomische Effekte haben, sondern auch die politische Stimmung der Bürger verbessern.

Interview: Dunja Melcic

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