INTERVIEW: Bei seinem Erzeuger wäre er erwünscht gewesen
■ Die Professorin Elisabeth Müller-Luckmann war eine der acht GutacherInnen im Revisionsprozeß von Jürgen Bartsch
taz: Der „Fall Bartsch“ sprengte die Kategorien der Justiz und der Kriminalpsychiatrie. Welche Folgen hatte das für die weitere Rechtsprechung?
Elisabeth Müller-Luckmann: 1975 wurden im Strafgesetzbuch die Paragraphen, die die Zurechnungsfähigkeit betreffen, geändert, und man hat sich entschlossen, in den Prämissen der Schuldverringerung oder des Ausfalls von Schuld zwei Personengruppen durch zwei neue Begriffe Rechnung zu tragen: „Schwere andere seelische Abartigkeit“, womit die Leute erfaßt werden sollten, die nur vorübergehend in eine schwere Deformierung ihrer Persönlichkeit verfallen sind, und „tiefgreifende Bewußtseinsstörung“, das sind die Affekttäter, die ansonsten psychisch vollkommen normal sind. Sicherlich hat der Fall Bartsch in diese Richtung Denkanstöße gegeben.
Hat dieser Prozeß auch die Bedeutung der psychiatrischen Gutachten in der Urteilsfindung verändert?
Ja. Was damals noch nicht üblich war, und mit durch diesen Prozeß in Gang gesetzt wurde: Heute ist es fast die Regel, daß jedes Tötungsdelikt begutachtet wird. Und meistens nicht nur von einem. Sie haben es jetzt wieder beim Rust-Prozeß erlebt: ein Psychiater und ein Psychologe. Meistens treten wir jetzt als Gespann vor den Gerichten auf, arbeiten aber natürlich unabhängig voneinander.
Im Bartsch-Prozeß waren es acht Gutachter...
Nun, es war ein derartig aus dem Rahmen fallendes Verhalten, daß man sich gesagt hat, hier darf man keine Anstrengung unversucht lassen, um herauszufinden, worauf das beruht. Ich sage gleich dazu, herausgefunden haben wir das nicht. Das kann man auch nicht herausfinden. Wir waren uns völlig einig, daß hier eine der schwersten perversen Entwicklungen vorlag, die wir jemals gesehen hatten, eigentlich überhaupt noch nie in dieser Form. Bartsch ist bis heute auch ein Jahrhundertfall geblieben. Es hat nie vorher und nie nachher so etwas gegeben, daß ein Junge in diesem Alter bereits eine derartig ausgebaute Triebdeformation hatte — eine Perversion im alten Freudschen Sinne.
Haben Sie Jürgen Bartsch für therapiefähig gehalten?
Wir waren uns damals alle einig, man müßte es versuchen. Aber kein Mensch hat eine Prognose gewagt, ob man da wirklich rankommt. Einen nicht in Freiheit befindlichen Menschen zu therapieren, ist ja auch eine Sache für sich. In seiner eingeengten Umwelt kann der ja gar keine neuen Verhaltenstechniken ausprobieren.
Schon von der Geburt an lief ja eigentlich alles schief...
Sein Erzeuger, der nicht mit der Mutter verheiratet war, hat sich bei den Jugendbehörden sehr darum bemüht, ihn zu bekommen. Nun war das zu damaliger Zeit absolut nicht üblich, ein Kind einem alleinerziehenden Vater zu überantworten. Doch da wäre er wirklich erwünscht gewesen. Frau Bartsch konnte ja keine eigenen Kinder bekommen. Man hat ihr dann in der Klinik das Kind mehr oder weniger aufgeschwatzt. Sie wollte ja eigentlich ein Mädchen haben. Doch er war so süß, er war ja später noch ein sehr hübscher Kerl, da hat sie ihn genommen. Sie hatte allerdings weder Zeit noch Lust, sich um dieses Kind zu kümmern. Aber sie hat ihm Schleifchen ins Haar gebunden, hat ihn so zum Mädchen hochstilisiert.
War Jürgen Bartsch ein typisches Muttersöhnchen?
Nein. Ich bezweifle, ob da überhaupt jemals an echter, unverstellter Emotionalität zwischen Mutter und Sohn irgendwas rübergekommen ist. Nur: Das erfahren auch x Leute in ähnlicher oder vergleichbarer Form und geraten vielleicht zu emotional etwas kühlen Typen, aber nicht zu homosexuellen Sadisten. Das ist das große Geheimnis.
Dem Wiederaufbau nach dem Kriege folgte eine gesellschaftliche Umorientierung, bei der sicherlich die Kinder zu kurz kamen. Produzieren derartige gesellschaftliche Veränderungen Gewalttäter von morgen ?
Sicherlich ist Bartsch ein Produkt dieser Nachkriegszeit. Aber: Es gibt mehrere Phänomene, die dafür sprechen, daß diese Art von Kriminalität über die Zeiten hinweg relativ konstant bleibt. Genauso wie sie, trotz Emanzipation und allem, was damit zusammenhängt, keine wesentliche Steigerung der Frauenkriminalität erlebt haben. Ein neuer Jürgen Bartsch wäre in jeder Gesellschaftsordnung zu allen Zeiten denkbar.
Das Gespräch führte Thorsten Schmidt.
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