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INTERVIEW„De facto ist in Afrika ein neuer Staat geboren worden“

■ Der Journalist und Afrika-Experte Walter Michler über die Zukunft Äthiopiens und die Forderungen der oppositionellen Kräfte

taz: Eritreas Guerilla hat ihr Land jetzt vollständig befreit. Damit ist ein 30jähriger Krieg zu Ende gegangen. Was bedeutet dieses Kriegsende für die Zukunft von Eritrea?

Walter Michler: Mit der totalen Kontrolle der eritreischen Volksbefreiungsfront über ihr Land Eritrea ist am Wochenende de facto ein neuer Staat in Afrika geboren worden. Denn die eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) hat um die staatliche Unabhängigkeit Eritreas gekämpft, sie will die völkerrechtswidrige Annektion durch Addis Abeba rückgängig machen. Sie hat gleichwohl am Wochenende von sich aus darauf verzichtet, den neuen und unabhängigen Staat Eritrea formell zu proklamieren.

Wieso?

Die EPLF hat in ihrem Friedensplan, den sie bereits 1980 veröffentlicht hat, ein international überwachtes Referendum für Eritrea gefordert. Sie vertritt also die Position, daß die Bevölkerung in Eritrea selbst entscheiden soll, in welcher Staatsform sie künftig leben will. Die Bevölkerung soll darüber abstimmen können, ob sie einen eigenen, unabhängigen Staat will. Oder ob Eritrea in einer Art Konföderation mit dem äthiopischen Staat verbunden wird, oder ob es eine autonome Provinz innerhalb des äthiopischen Staatsverbandes wird.

Wann könnte so ein Referendum stattfinden?

Sicherlich nicht innerhalb der nächsten Monate. Die eritreische Volksbefreiungsfront hat jetzt am Wochenende noch einmal erklärt, daß sie bereit ist, im Moment noch auf die Verwirklichung des Referendums zu verzichten, und zwar bis sich in Addis Abeba wieder eine Regierung gebildet hat und halbwegs stabile Verhältnisse eingekehrt sind.

Wird sich die IPF an einer solchen Regierung beteiligen?

Im Moment sieht es so aus. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, daß ja schwere Kampfverbände der EPLF auch vor Addis Abeba stehen. Die Großoffensive der Revolutionären Demokratischen Front des äthiopischen Volkes (IPRDF), die bereits im Februar begann, ist ja seitdem von Verbänden der Eriträer unterstützt worden. Und an den erfolgreichen Kämpfen haben die Eriträer einen wesentlichen Anteil. Insofern sind sie im Moment natürlich auch ein stabilisierender Faktor für eine Regierung in Äthiopien.

Was wird denn aus Äthiopien werden? Ist der Staat überhaupt überlebensfähig?

Ganz sicher. Ich habe große Hoffnungen und Zuversicht für die Geburt eines neuen Äthiopiens, denn die Widerstandsbewegungen haben recht vernünftige Konzepte vorgelegt. Sie wollen jetzt am runden Tisch in London eine Übergangsregierung aushandeln. Diese Übergangsregierung soll natürlich ganz wesentlich von den verschiedenen Kräften der Opposition bestimmt werden. Nach Vorstellungen der bedeutendsten Bewegung, eben der Eritreischen Volksfront, soll die Übergangsregierung zwei Jahre an der Macht bleiben. Während dieser Zeit sollen übrigens internationale Beobachter in Äthiopien stationiert werden. Diese internationalen Beobachter sollen die Ausarbeitung einer neuen Verfassung begleiten und sollen auch die ersten allgemeinen, freien Wahlen für eine demokratische Regierung in Äthiopien überwachen.

Die Opposition vertritt ferner die Position, daß Äthiopien eine völlig neue Staatsverfassung erhalten muß, das heißt es soll eine föderalistische Staatsverfassung errichtet werden. Eine föderalistische Verfassung bedeutet aber, daß die hundertjährige Vorherrschaft des Volkes der Amharen — die ja mit einem Anteil von einem Fünftel an der Gesamtbevölkerung eine Minderheit darstellen — ein für alle Mal beendet wird. Und das bedeutet wiederum, daß die amtierende Zentralregierung jetzt am runden Tisch in London nicht nur auf die eigene Macht verzichtet, sondern daß sie gewissermaßen das Aus für die Dominanz der Amharen mit unterschreiben muß.

Ist das ohne Blutbad möglich?

Die Regierung steht mit dem Rücken an der Wand. Sie verfügt kaum noch über nennenswerte militärische Kräfte. Die Marine ist völlig verloren, die Luftwaffe ist ebenfalls unter Kontrolle der Opposition — der größte Flughafen Debr Feit ist ja am Wochenende ebenfalls erobert worden und sehr viele Soldaten haben sich ergeben. Militärisch besteht also überhaupt keine Chance mehr für die Zentralregierung. Insofern muß sie dem Druck der Opposition nachgeben. So wird das weitere politische Geschehen, wenn auch nicht allein, aber ganz eindeutig doch von der Opposition bestimmt werden.

Interview: Dominic Johnson

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