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■ INTERVIEWMedico-Mitarbeiterin: „Die ganze Kultur der Schia im Südirak soll zerstört werden“

Die Ärztin Eva Wichtmann reiste als Mitarbeiterin der Hilfsorganisation medico international durch den Iran. Zusammen mit einem Exiliraker fuhr sie auch nach Khusistan, wohin viele Schiiten aus dem Süden des Iraks geflohen sind. In fünf Tagen besuchte sie neun verschiedene Flüchtlingslager.

taz: Wie haben die Flüchtlinge auf euch reagiert?

Dr. Eva Wichtmann: Die Leute haben uns angeschrien, wieso wir ihnen so blöde Fragen stellen würden. Was im Süden des Iraks passiere sei doch alles bekannt. Man sah ihnen an, wie sehr sie noch immer unter Schock standen. Sie haben unvorstellbare Massaker gesehen. Frauen haben erzählt, daß vor ihren Augen ihre Kinder mit Kanonen — nicht etwa mit Pistolen — erschossen worden sind. 1.600 Menschen sollen mit Asphalt übergossen und dann mit Straßenwalzen überrollt worden sein. In Amara sollen 35 Männer mit Benzin umgebracht worden sein. Durch einen Magenschlauch wurde ihnen Benzin eingeflößt, und dann wurde einem nach dem anderen mit Zündmunition in den Magen geschossen.

Aus welchen Städten kamen solche Berichte?

Die Flüchtlinge in den Lagern kamen aus fast allen Städten des Südiraks, und von überall berichteten sie von solchen Massakern. Vielfach sind irakische Panzer in den Süden gefahren, auf denen die Parole stand: „Ab heute kein Schiit mehr im Südirak“. Im Süden sind zweitausend Moscheen zerstört worden. Fast alle kulturellen Zentren sind gezielt zerstört worden. Die vier größten Bibliotheken mit alten Schriften der Schiiten sollen zerbombt worden sein. Offensichtlich soll die ganze Kultur der Schia im Südirak zerstört werden.

Um wie viele Flüchtlinge handelt es sich?

Das ist unklar. Es werden etwa 70.000 angegeben, aber vielfach lassen sich die Leute nicht registrieren.

Wie ist die Situation in den Lagern?

Die Leute leben in einer unerträglichen, brütenden Hitze in Zelten. Es waren jetzt schon 40 Grad, und die Temperaturen sollen innerhalb des nächsten Monats auf 50 bis 55 Grad steigen. Die Versorgung beruht zum großen Teil auf Spenden der örtlichen Bevölkerung. Die Leute sind Hals über Kopf ohne jedes Gepäck geflohen, manchmal mitten in der Nacht in Schlafanzügen.

Gibt es aktuelle Berichte aus dem Südirak von Flüchtlingen, die jetzt rauskommen?

Die meisten flüchten jetzt über den Norden, über die kurdischen Gebiete, weil sie die Grenze im Süden nicht mehr überqueren können. Nach Aufnahme der Verhandlungen in Bagdad sind anscheinend Truppen aus dem Norden in den Süden verlegt worden. Die Grenze im Süden zu überqueren kommt jetzt einem Selbstmordkommando gleich. Trotzdem versuchen schiitische Gruppen immer noch, Hilfen aus dem Iran in die südirakischen Sümpfe zu bringen. Dort sollen noch bis zu einer Million Flüchtlinge leben und sich nur von Datteln ernähren. Sie versuchen angeblich, aus gestampften Dattelkernen Brot zu backen, und trinken Sumpfwasser.

Wird dort weiterhin gekämpft?

An der Grenze gibt es viele Zwischenfälle zwischen irakischer Armee und Flüchtlingen, die versuchen zurückzukehren. Im Süden agieren immer noch Republikanische Garden, die sehr genau und sehr brutal zuschlagen. In den Städten wird über Strom- und Wasserversorgung eine Art Kontrollpolitik betrieben. Nur die Saddam-loyalen Wohnviertel sollen Strom und Wasser bekommen.

Was sagen die geflüchteten Schiiten zu den Verhandlungen zwischen Kurden und der Saddam-Regierung in Bagdad?

Die sind zum Teil sehr vorsichtig und sagen, man müsse erst mal die Ergebnisse der Verhandlungen abwarten, um sie beurteilen zu können. Zum Teil sind sie aber auch sehr verbittert und halten die Verhandlungen für einen Verrat, einen Bruch der Beiruter Vereinbarungen zwischen den verschiedenen irakischen Oppositionsgruppen.

Was müßte passieren, damit diese Flüchtlinge in den Südirak zurückkehren können?

Uns haben die Flüchtlinge vorgeworfen, wir würden bloß viele Fragen stellen, und niemand würde wirklich eine politische Lösung in Angriff nehmen. Viele haben gesagt, sie seien keine Flüchtlinge, sondern Widerstandskämpfer. Aber weder als Widerstandskämpfer hätten sie im Westen eine Stimme, noch würden sie irgendwo als Flüchtlinge auftauchen. Mit Brot, Wasser und Medikamenten könne man ihre Situation nicht verbessern, sondern mit internationalem Schutz für ihre Rückkehr und internationale Beobachter zum Schutz ihrer Familien im Irak. Interview: Thomas Dreger

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