INTERVIEW: Paulus, Thrasypulos und Mielke
■ Was tun mit der Vergangenheit, mit der Stasi-Elite? Vorschläge des französischen Althistorikers Pierre Vidal-Naquet
taz: Wie sollen post-totalitäre Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit umgehen? Wäre es nicht am besten, auf Prozesse zu verzichten und durch eine allgemeine Amnestie reinen Tisch zu machen?
Pierre Vidal-Naquet: Die erste Amnestie in der Geschichte gab es in Griechenland im Jahre 403 vor Christi Geburt. Die Demokraten unter Thrasypulos hatten Athen zurückerobert. Damals wurde ein Pakt geschlossen: keine Gnade für die „30 Tyrannen“ und die „Elf von Pyräus“, eine Gruppe von Mördern — aber Amnestie für alle anderen. So sollte die Erinnerung an die Verbrechen aus der Stadt ausgetrieben werden. Interessant ist, daß außerdem jeder, der an die Verbrechen erinnerte oder einen anderen anklagte, zum Tode verurteilt werden mußte. Die Urteile sind auch vollstreckt worden.
Die Täter lebten ohne Strafe, und die Opfer wurden hingerichtet, wenn sie auf die Täter zeigten?
Genau. Das war das erste große Beispiel einer Amnestie. Seit der Französischen Revolution haben alle Regierungen Amnestien erlassen. Die Amnestie ist eine Art Bedingung für das Fortbestehen von Gesellschaft. Aber ich denke, es muß Ausnahmen geben. Die einzige akzeptable Ausnahme von der Amnestie sind „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie sie in den Nürnberger Prozessen definiert wurden.
Sollen Mielke und Honecker also vor Gericht gestellt werden?
Das ist schwierig. Zumal für die Bundesrepublik. Schließlich ist ein General Heinz Lammerding, der das Dorf Oradour-sur-Glane vernichtet hat, in der Bundesrepublik Deutschland niemals angeklagt worden. Weshalb also soll Mielke jetzt vor Gericht gestellt werden, wenn man Lammerding faktisch amnestierte?
Weil ein Versagen ein zweites nicht rechtfertigt...
Vielleicht. Aber die Sache ist ja noch schwieriger. Nach welchem Gesetz soll geurteilt werden? Was die Stasi betrifft, so würde ich es mit der Maxime von Paulus halten: Jeder wird nach dem Gesetz geurteilt, das er gekannt hat (Lukas 22ff, d. Red.). Die Juden nach dem jüdischen, die Christen nach dem christlichen. Selbst wenn man erachtet, daß die DDR kein souveräner Staat war, kann man niemanden vor ein bundesdeutsches Gericht stellen, wenn er die Gesetze der DDR angewandt hat. Die DDR hatte zwar eine Regierung, die im Kern keine Legitimation hatte, aber es war eine Regierung, die von allen anerkannt war. Nein, es scheint mir sehr schwierig zu sein, Honecker und die anderen juristisch einwandfrei zu verurteilen. Zumal der Oberverantwortliche ohnehin in Moskau ist.
Dann hätten wir aber die paradoxe Situation, daß der kleine Grenzsoldat an der Mauer wegen Tötung verurteilt wird, die letztlich Verantwortlichen aber nicht.
Man darf auch die Grenzsoldaten nicht vor Gericht stellen. Man kann sich durch Prozesse nicht von der Vergangenheit lösen. Man muß mit Geschichte leben. Genauso wie man mit Faurisson leben muß (dem bekanntesten Revisionisten in Frankreich, d. Red.). Wenn eine Gesellschaft eine totalitäre Erfahrung gemacht hat, wird man nicht auf die Straße gehen können, ohne Mördern oder ihren Komplizen zu begegnen. Man kann sie nicht alle ins Gefängnis stecken. Balzac beschreibt in seinen Chouans einen anti-jakobinischen Aufständischen der Vendée, der sein Leben friedlich und ungeschoren verbringt, obwohl er mehr als hundert Menschen umgebracht hat.
Und was sagen Sie den Familien der 97 Maueropfer?
Ich sage ihnen das Gleiche, was ich den Algeriern sage, deren Familien von der französischen Polizei getötet wurde. Aber wenn morgen jemand Herrn Honecker umbrächte, würde ich das sehr gut verstehen können. Kennen Sie Germaine Tillion? Eine Widerstandskämpferin, die von den Nazis nach Ravensbrück deportiert wurde. Sie war von einem Priester denunziert worden, der sich der Résistance angeschlossen hatte, um Leute denunzieren zu können. Dieser Priester wurde nach der Befreiung füsiliert. Germaine Tillion sagte mir: „Es gibt Leute, mit denen kann man nicht die gleiche Luft atmen.“
Kann der Terminus „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht als universelle Norm taugen, um Regierungsverbrecher anzuklagen?
Nein, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind kein praktikabler juristischer Begriff. Ab wann ist ein Kapitalverbrechen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Ist das abhängig von der Zahl der Opfer? Ich denke z.B., daß für Frankreich der 17. Oktober 1961 ebenfalls ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ war (damals ertränkte die Pariser Polizei 200 Algerier in der Seine. Der zuständige Polizeipräfekt Maurice Papon mußte später als Minister unter Giscards zurücktreten, weil er unter dem Vichy-Regime an Judenverfolgungen in Bordeaux beteiligt war, d. Red.). Die Gerichte haben das anders gesehen. Sie haben argumentiert, daß de Gaulles Amnestie für den Algerienkrieg total sei, also keine Ausnahmen zulasse.
Wenn die Moral Sache des Staates wird, geraten Sie in eine Reihe von unüberwindbaren Widersprüchen. Entweder klagt man alle oder nur wenige an. Und dann werden die wenigen zu Recht fragen: Weshalb ich und nicht mein Nachbar? Der Verantwortliche für ein Massaker 1957 in Algerien ist nach der Unabhängigkeit Minister geworden. Das war auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Menachim Begin hat Hunderte von Leuten umgebracht und wurde Regierungschef.
Aber Sie haben gemeint, Verbrechen gegen die Menschlichkeit müßten von Amnestien ausgenommen bleiben.
Man kann den Begriff in pädagogischer Absicht verwenden. Da man im Falle der DDR alle Beteiligten nicht verhaften kann, wäre es vielleicht gut, ein oder zwei symbolische Prozesse zu führen. Als Katharsis! Aber in vollem Bewußtsein, daß es sich um symbolische Prozesse handelt. Der einzige Fall, in dem nach den Nürnberger Prozessen wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ Anklage erhoben wurde, war der Barbie-Prozeß — ein symbolischer Prozeß. Die pädagogische Wirkung war auch sein einziger positiver Aspekt.
Und wie kann sonst noch verhindert werden, daß die Amnestie zur Amnesie, zum Vergessen wird?
Durch Museen! Durch die Zivilgesellschaft! Durch die Historiker! Der spannendste Teil des deutschen Historikerstreits war der, als über das Museum für Deutsche Geschichte debattiert wurde. Denn die Frage der Museen ist eine Frage nationaler Pädagogik. Ich habe mich heute vielleicht damit abgefunden, daß Amnestien notwendig sind. Aber ich bin nach wie vor kategorisch in der Frage der Schulbücher. Jede Abschwächung der Verbrechen Hitlers oder der Verbrechen in der DDR in deutschen Schulbüchern wäre in meinen Augen eine sehr ernste Angelegenheit. Ein gut gemachtes Museum und gut gemachte Schulbücher sind der beste Weg, gegen das Vergessen zu kämpfen. Machen Sie ein gutes Museum über die Mauer und die Stasi!
Nach dem Golfkrieg forderte Außenminister Genscher ein Verfahren gegen Saddam Hussein vor einem internationalen Gerichtshof. Kann Moral Sache des Staates sein?
Die Diplomatie baut auf Kräfteverhältnisse. Es ist nicht schlecht, daß man jetzt ein „Recht auf Einmischung“ einklagt, um die Staaten unter Druck zu setzen. Aber man darf sich keine Illusionen über eine neue humanitäre Diplomatie machen.
Das Problem vor dem Krieg war: Saddam Hussein zu töten, um das irakische Volk zu verschonen. Man hat dann genau das Gegenteil gemacht. Man hat 200.000 Iraker getötet und Saddam Hussein verschont! Wozu gibt es Geheimdienste, wenn sie keine Leute wie Saddam Hussein töten können? Wenn morgen ein deutscher Geheimdienst Erich Honecker in Moskau umbringt, würde ich persönlich dagegen nichts einzuwenden haben. Aber man darf Angelegenheiten der Geheimdienste nicht mit Justizangelegenheiten vermischen. Interview: Alexander Smoltczyk
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