INTERVIEW: „Wir haben den Kampf gegen Wehrpflicht und Massenarmee aufgenommen“
■ Totalverweigern — aber was, wenn sich die Welt nicht an Gewaltfreiheit hält?/ Soll Deutschland sich aus internationalen Konflikten heraushalten?/ Ein taz-Interview mit Christian Herz
Berlin. Christian Herz ist Totalverweigerer und Mitinitiator der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“.
taz: In der DDR-Friedensbewegung war 1981 ein SOFD-Papier (Sozialer Friedensdienst) im Umlauf, um die Anerkennung des Gewissenskonflikts beim Dienst mit der Waffe in der NVA vom Staat zu erreichen. Um den Verdacht der „Drückebergerei“ auszuräumen, machte man das Angebot, statt des Armeedienstes einen dreijährigen sozialen Friedensdienst zu leisten. Dies entsprach der doppelten Länge des Wehrdienstes. Wie stehst du als Totalverweigerer zu dieser Haltung?
Christian Herz: Wir haben das immer für falsch gehalten, weil wir ja genau die gleiche Problematik in der BRD schon vorexerziert bekamen. Der ganze Zivildienstkomplex ist ein Ersatzdienst für etwas, was man ablehnt zu tun. Er gibt die Legitimation für die Wehrpflicht, die jeder Totalverweigerer ablehnt.
Der soziale Aspekt des waffenfreien Dienstes für die Gesellschaft hat bei der DDR-Friedensbewegung eine große Rolle gespielt. Wird er von euch abgelehnt?
Wir lehnen es ab, auf einer Zwangsverpflichtungsgrundlage im Rahmen von Wehrverpflichtung Dienste auf Billiglohnniveau zu erbringen zur gleichzeitigen Aufrechterhaltung hoher Militäretats. Für einen sozialen Friedensdienst in der BRD setzten sich Kirchen und Gewerkschaften ein. Ergebnis war, daß alle Stellen, die interessant gewesen wären, keine Chance gehabt hatten.
Das Bundesrecht zur Wehrpflicht stellt eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem alten DDR-Recht dar. Wie schätzt du diese Rechte — für viele Länder der Welt keineswegs selbstverständlichen — ein?
Ich hätte es am liebsten gesehen, wenn ein Ergebnis der Vereinigung die Abschaffung des Militärs und damit auch der Wehrpflicht gewesen wäre. Das BRD-Recht ist eine Verbesserung gegenüber dem Bausoldatendienst in der DDR. Das tröstet aber wenig, wenn wir auf Grund der hohen Vereinigungskosten und der Entspannung eine Abrüstungschance verspielen. Wir haben den Kampf gegen die Wehrpflicht und die damit verbundene Beibehaltung der Massenarmee aufgenommen.
Wie steht ihr zur Mitgliedschaft Deutschlands in der UNO? Haben die Ergebnisse der Berliner KSZE-Tagung Auswirkungen auf eure Argumentation?
Es wäre wichtig, die zentrale Rolle der BRD in Europa so zu nutzen, daß massive Abrüstungsschritte eingeleitet werden und gesellschaftliche Weiterentwicklung ermöglicht wird. Die Militarisierung der Verfassung muß ausgeschlossen werden. Das heißt: keine Änderung der Interpretation zur Auslegung der Verfassung, keine Veränderung der Verfassung im Sinne einer Blauhelm-Regelung oder des Einsatzes deutscher Soldaten außerhalb Europas. Das bedeutet, keine Unterstützungsleistungen, die in diese Richtung gehen innerhalb der EG, der KSZE- Abkommen oder auch was jetzt im Bereich der westeuropäischen Verteidigungsunion besprochen wird. Die Warschauer-Pakt-Vertragsstaaten haben sich aufgelöst. Die NATO muß sich auch auflösen mit dem Ziel der Abschaffung der kompletten Armee.
Deutschland sollte sich also aus internationalen Konflikten, die nicht mit ausschließlich pazifistischen Mitteln gelöst werden können, heraushalten?
In Konflikte wie beispielsweise den Kurden-Mord sollten wir uns einmischen, aber nicht, indem wir Waffen liefern. Es gibt keine militärische Konfliktlösung mehr. Die Probleme, die im Golfkrieg angeblich militärisch gelöst werden sollten, sind ja nicht gelöst. Im Gegenteil. Wir haben keine Befriedung dieser Zone. Wenn man sich Kuwait anschaut, stellt man fest, es ist gar kein Frieden dort, sondern es wird jetzt bloß mit offizieller amerikanischer Genehmigung gemordet. Wir fordern den Ausstieg aus militärischer Konfliktlösung. Aktive Einmischung mittels internationaler Anklagen, Wirtschaftsembargo bieten da Chancen, nicht zuletzt wegen des Wegfalls des Ost-West-Gegensatzes. Wir sind nicht bereit, uns in die Militärlogik hineinzubegeben, die nur kurzfrisig beurteilt, indem sie sagt, da sind jetzt Waffen und deswegen müssen wir unsere Waffen dagegen einsetzen.
Was gedenkt ihr zu tun, wenn sich nicht alle auf der Welt an diese Ziele halten, wenn es zu einer Verletzung des Völkerrechts kommt?
Wenn die BRD die Wehrpflicht abschafft, dann werden viele andere Staaten sofort nachziehen. Es gibt Überlegungen in diese Richtung in der Sowjetunion, Italien, Holland und Belgien. Die Wehrpflicht ist nicht mehr demokratietauglich, war es auch noch nie. Abrüstungsprozesse heißen aber auch, nicht sofort eine Reduktion von hundert Prozent auf null. Die Friedensdividende, die einem Staat zukommt, der abrüstet, hat eine attraktive Ausstrahlung in andere Zonen, daß die ebenfalls abrüsten, auch abrüsten müssen, wenn sie wirtschaftlich überleben wollen. Eine BRD, die Abrüstung massiv betreibt, ist ja noch eine sehr viel größere Wirtschaftsmacht, als sie das jetzt ohnehin schon ist. Und deswegen müssen die anderen Staaten dann zwangsweise nachziehen. Wenn wir zum Beispiel einem Diktator wie Saddam Hussein keine Systemunterstützung mehr geben, dann kann dieser zwar versuchen, mit Messern auf seine Bevölkerung loszugehen oder gegen andere, aber er hat keine Waffensysteme mehr. Und das ist entscheidend.
Was macht man, wenn ein Diktator wie Saddam Hussein mit Messern auf seine Bevölkerung oder andere losgeht?
Die menschliche Hemmschwelle im Bereich von Massenaktionen ist sehr viel größer, wenn sie direkt mit Tötungsleistungen verbunden sind. Dieses wesentliche Ergebnis der Verhaltens- und Friedensforschung hat gezeigt, daß je mehr der Krieg technologisiert wurde, das heißt je enthemmter der Mensch einen Tötungsgang vornehmen kann, um so leichter fällt es ihm. Je mehr man diese Stufe wieder zurückdreht, desto schwieriger wird auch die Tötungsleistung für den einzelnen.
In einigen Staaten gibt es Berufsarmeen, und vereinzelt bekam ich in Gesprächen mit Wehrdienstverweigerern zu hören, eine solche Lösung wäre für Deutschland auch nicht schlecht. Wie stehst du dazu?
Wir akzeptieren auf keinen Fall eine Berufsarmee als Alternative zur Wehrpflicht. Die Abschaffung der Wehrpflicht ist der erste Schritt, der zweite Schritt ist die Abschaffung derjenigen, die die Wehrpflichtigen ausgebildet haben. Auf keinen Fall wollen wir die technologische Umrüstung der Armee im Sinne einer kleinen schlagkräftigen und effektiven Truppe. Die Perspektive muß die Abschaffung der Ausstrahlungskraft der Wehrpflicht zur Militarisierung der Gesellschaft sein, um dann auch längerfristig die Armee insgesamt angreifen zu können und sie abzuschaffen. Das ist unser Ziel.
Wenn der erste Schritt, die Abschaffung der Wehrpflicht, erreicht ist, existiert ja zumindest für eine gewisse Übergangszeit eine Berufsarmee. Wie will man die politisch beeinflussen?
Höchstwahrscheinlich wird die Wehrpflicht bis zum Jahr 2000 abgerüstet sein. Die Frage ist nur, ob sie von unten abgerüstet sein wird oder von oben. Wenn sie von unten wegkommt, dann haben wir die Einflußmöglichkeit, weil wir dann stark genug sind, auch die Berufsarmee entsprechend anzugreifen und so für die Übergangsphase umzustrukturieren. Wenn sie von oben abgeschafft wird, was wahrscheinlicher ist, dann bedeutet das eine Umstrukturierung und Technologisierung der Berufsarmee. Das verfassungsmäßige Umfeld wird geändert, und natürlich haben Wehrpflicht- und Militärgegner keine Mitsprachemöglichkeiten mehr. Dann kriegen wir noch eine allgemeine Dienstverpflichtung zur Sanierung im Sozialbereich, und damit hat sich dann das Szenario verwirklicht, was uns als Kriegsdienstgegnern überhaupt nicht entsprechen kann.
Du lehnst also eine Berufsarmee ab?
Ja, für mich ist die Abschaffung der Wehrpflicht praktisch nur ein Einstieg zu weiterer Abrüstung, und da gehört selbstverständlich auch die Berufsarmee dazu.
Kannst du mir zum Abschluß noch den Satz des von euch anläßlich der Aktion zur Rekrutenverabschiedung am 1. Juli herausgegebenen Flugblattes „Diesmal heißt es: Heute gehört uns Europa, morgen die ganze Welt!“ erklären? Wieso wird diese parallel zum Dritten Reich gesucht?
Das ist so ein bißchen Ironie auf die ganze Diskussion, die in den Schulen immer öfter mal abläuft. Wir kriegen von den Jugendoffizieren manchmal vorgeworfen, am deutschen Friedenswesen soll die Welt genesen, in perverser Umkehrung des alten Nazispruches: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Und genau der Auffassung sind wir nämlich nicht. Wir sagen ganz bewußt, wir brauchen keine europäischen Soldaten irgendwo auf der Welt und erst recht keine deutschen Soldaten. Die Gefahr eines Mißverständnisses dieses Satzes sehe ich nicht, dazu hat ja der Leser die anderen Sätze noch als Umfeld, und die Kampagne steht ja auch mittlerweile in einem gewissen Ruf, und es ist ja auch durch die Überschrift gekennzeichnet: „Jede Einberufung ein Skandal!“ Interview: Thomas Voit
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen