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INTERVIEW„Solidarność muß den Reformprozeß überwachen“

■ Bogdan Borusewicz, Solidarność-Gründer und Kandidat auf ihrer Liste, über die politische Rolle der Gewerkschaft

taz: Herr Borusewicz, aus der Solidarność-Bewegung sind mehrere Parteien hervorgegangen. Damit hat sich wohl auch ihre Rolle als Gewerkschaft verändert...

Borusewicz: Ja, es sind politische Parteien entstanden, deren Einfluß und Verankerung in der Bevölkerung jedoch weiterhin begrenzt sind. Die Solidarność hat die Reform der Gesellschaft eingeleitet und unterstützt sie auch weiterhin. Nach wie vor ist sie die größte Organisation im Lande, aber ihre Möglichkeiten bleiben begrenzt.

Zur Wahl werden mehrere Gruppierungen mit der Bezeichnung „Solidarność“ antreten, z.B. „Solidarność Pracy“, „Polskie Stronnictwo Ludowe Solidarność“. Was ist davon zu halten?

Nur die „Solidarność Pracy“ mit Bujak tritt zur Wahl mit einem ähnlichen Namen an. Dabei wird aber nicht unser Zeichen gebraucht, sondern nur die Bezeichnung Solidarność. Auch in der Kirche wird der Begriff der Solidarität gebraucht. Wir haben darauf kein Monopol.

Warum tritt die Solidarność überhaupt als eigene Gruppierung zu den Wahlen an?

Die ökonomische Situation in Polen ist desolat. Dadurch, daß eine Reihe unserer Kollegen in die einzelnen entstandenen Parteien gegangen sind, verlor die Solidarność an Einfluß auf die Gesetzgebung und auf den Prozeß der Veränderungen des Systems. Wir meinen, daß sie nur mit gesellschaftlicher Zustimmung erfolgen dürfen, und die Solidarność wird zukünftig diese Zustimmung sicherstellen. Keine der Gruppierungen, die aus der Solidarność entstanden sind, repräsentiert eindeutig die Interessen der Arbeitnehmer. Diejenigen, die uns verlassen haben und in die Parteien gegangen sind, sind denen gegenüber loyal. Solidarność möchte Abgeordnete haben, die gegenüber der Gewerkschaft loyal sind. Wir gehen ins Parlament, um die Veränderungen im Wirtschafts- und Arbeitsbereich zu überwachen.

Alle Parteien sprechen sich für die Rettung der Staatsbetriebe aus. Wie sieht die Solidarność dies Problem?

Nein, nicht alle wollen die Staatsbetriebe retten. Solidarność möchte sie auch nicht retten. Wir möchten vor allem, daß die notwendige Privatisierung mit einer gesellschaftlichen Akzeptanz durchgeführt wird. Einen Betrieb kann man nicht privatisieren, wenn die Leute die Privatisierung nicht wollen. Solidarność will, daß für die Industriebetriebe, bei denen die Privatisierung schwer durchzuführen ist, eine besondere Industriepolitik betrieben wird. Schließlich kann die Privatisierung nicht einfach in ein oder zwei Jahren durchgeführt werden. Solche Illusionen gibt es. Man kann so etwas vielleicht in England machen, nicht aber in den postkommunistischen Ländern, in denen sich fast 95 Prozent der Industrie in Staatsbesitz befindet.

Was sind die wichtigsten Punkte Ihres Wahlprogramms?

Solidarność unterstützt die Reformen und trägt ihre Kosten. Wir wollen erstens, daß die Lasten der Reform gleichmäßig auf alle verteilt werden; zweitens, daß eine aktive Wirtschafts- und Finanzpolitik durchgeführt wird, die auch die Produktion in Gang setzt; drittens geht es um die Politik, die gegenüber unseren Nachbarn in den postkommunistischen Ländern vertreten wird. Wir haben unsere Märkte im Osten verloren, und die EG hält Zollschranken aufrecht, die uns erdrücken. Wir müssen unsere Möglichkeiten erweitern und zu einer erweiterten Zusammenarbeit mit Prag und Budapest kommen.

Wie schätzen Sie die Chancen der Solidarność bei der Wahl ein?

Ich glaube, daß wir insgesamt im Landesdurchschnitt bis zu 20 Prozent erreichen werden, vielleicht auch nur 15 Prozent.

Solidarność betont, daß sie auf keinen Fall eine Regierungsbeteiligung anstrebt...

Die Solidarność möchte sich nicht an der Regierung beteiligen, weil dies auch von unserer Basis nicht gewollt wird. Wenn es aber Gefahren gibt, etwa die Beteiligung der Bierfreunde-Partei oder der Partei X, dann werden wir nicht zögern, Verantwortung zu übernehmen. Aber mit Sicherheit werden wir nicht so sehr an der Gestaltung der Regierung teilnehmen, als vielmehr deren personelle und programmatische Ausrichtung so beeinflussen, daß man sie unterstützen kann. Interview: Ulrich Zuper

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