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INTERVIEW„Rußland verspätet sich immer“

■ Interview mit Professor Leonid Wolkow, Abgeordneter des Obersten Sowjet Rußlands und Mitglied des russischen Verfassungskomitees

taz: Der Entwurf der neuen russischen Verfassung sieht Garantien vor, die das Aufkeimen eines Totalitarismus und die Dominanz einer Ideologie in der russischen Politik ein für allemal unterbinden sollen. Betrifft das auch einen potentiellen russischen Fundamentalismus? Wie sehen die Garantien aus?

Leonid Wolkow: Der Entwurf ist auf die Errichtung einer „zivilen Gesellschaft“ hin geschrieben. Die universellen Menschenrechte stehen im Mittelpunkt, das schließt Totalitarismus und die Vorherrschaft des Ideologischen von vornherein aus. Das betrifft auch die diversen Formen von aggressivem Nationalismus. Vielleicht geht das Projekt sogar ein Stück zu weit und verdammt diese Kräfte in die Illegalität.

Die Inthronisierung des Individuums als höchstes Verfassungsgut — die Absage an die moralische Überlegenheit des Kollektiven — das ist für Rußland ein revolutionärer Traditionsbruch. Es ist eine Absage an sein halbbewußtes Selbstverständnis. Wird die Gesellschaft da mitziehen?

Ich glaube, das Volk ist im großen und ganzen soweit. Das heißt aber nicht, daß die Mehrheit der Bevölkerung wüßte, wie sich die Maximen der Verfassung realisieren ließen. Noch ist unsere Kultur mit diesen Vorstellungen nicht kompatibel. Hier kommt es vor allem auf die Entschiedenheit unserer Politiker an.

Kommt das Vorhaben nicht schon wieder etwas spät. Es entsteht der Eindruck, als sollten begangene Fehler auf die schnelle übertüncht und unerfreuliche Entwicklungen aufgehalten werden. Etwa im Umgang mit den zahlreichen nichtrussischen Autonomien?

Rußland verspätet sich immer. Die Probleme mit der föderalen Struktur Rußlands sind hochkompliziert. Ohne die Kompetenzfragen innerhalb der Union zu klären, konnten wir nicht an eine Neuregelung des russischen Föderalismus denken. Ich halte es für gefährlich, hier übereilt zu handeln. Für mich sind andere Fragen wichtiger: die Stellung des Präsidenten, die Bedeutung des Parlaments und die Schaffung eines arbeitsfähigen Rechtssystems. Ein erster Schritt war die Einrichtung einer Verfassungskommission als ein ständiges Gremium beim Obersten Sowjet. Zwei Wege stehen zur Auswahl: die Implementierung des Verfassungsprojektes zu forcieren oder erst einmal die Operationabilität bestimmter Rechtsgrundsätze zu sichern, sozusagen die Verfassung als etwas Organisches zu behandeln. Am Anfang halte ich das für klüger. Zumal sich der Staatsaufbau noch nicht deutlich genug herauskristallisiert hat. Dazu gehört auch der Komplex des Föderalismus. Bisher sprechen wir von Republiken und Ländern innerhalb der RSFSR. Die Länder sollen aus den vormaligen Gebieten, den „Oblasts“, gebildet werden mit mehrheitlich russischer Bevölkerung. Die ehemaligen Autonomen Republiken werden zu Republiken mit einigen kleineren Veränderungen. Die politische Funktion der Länder muß jetzt en detail erarbeitet werden. Alle bisherigen Verwaltungseinheiten müssen dazu konsultiert werden. Eine territoriale Reorganisation ist unumgänglich.

Repräsentanten der Autonomen Einheiten haben lautstark ihren Protest angemeldet...

Ja, mir scheint das wenig begründet und nicht rational. Denn auf der föderalen Ebene ändert sich an ihrer Vertretung kaum etwas. Das Gewicht könnte sich sogar zugunsten der Republiken gegenüber den Ländern verlagern. Doch jene fürchten, durch eigene Verfassungen würden die Länder aufgewertet. Wir müssen da noch eine Menge Überzeugungsarbeit leisten. Schließlich liegt ein Ziel der Reform darin, die Republiken in ihrem Verkehr mit den Ländern unabhängiger zu machen, bessere Ausgangsbedingungen für die Marktwirtschaft zu schaffen. Nationale Überlegungen und Ambitionen verlieren in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Der Transfer zur Marktwirtschaft soll doch gerade die Dominanz der staatlichen Strukturen zugunsten einzelner Wirtschaftssubjekte abbauen. Abstrakt verstehen die Leute das, wenn es um Einzelheiten geht, sperren sie sich. Vor allem konservative Kräfte, die noch zur Zeit des Kommunismus in die Kommission gewählt wurden, leisten Widerstand. Viele von ihnen sitzen gerade in den Autonomen Republiken. Sie sind fürchterlich stur. Einen Erfolg möchte ich nicht garantieren.

Welche Verfassungsmodelle haben dem Komitee als Vorlagen gedient?

Natürlich haben die meisten für die amerikanische Verfassung optiert. Sie hat sich immerhin zweihundert Jahre lang als stabil erwiesen. Ich war dagegen. Der Vorsitzende unseres neuen Verfassungsgerichtes, Professor Sorkin, bestand darauf, die amerikanische Gewaltenteilung, das Präsidentschaftsmodell und die Judikative zu übernehmen. Ein großer Fehler in meinen Augen, denn unsere Kultur ist eine andere. Wir haben keine Erfahrungen mit dem Parlamentarismus, uns fehlen die grundlegenden Rechtsinstitutionen, so daß deren Kopie bei uns bestenfalls zur Ausgestaltung einer lateinamerikanischen Präsidialdemokratie führen wird. Parlament und Judikative werden sich mehr oder weniger mit einer Schattenrolle zufriedengeben müssen. Bei unserer äußerst unstabilen sozialen Struktur liegt darin eine Gefahr. Unsere Alternative sah eine Kombination aus dem französischen und deutschen Konstrukt der zentralen Strukturen vor. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Nach den Erfahrungen mit Jelzin in den letzten Wochen, den ich sonst im allgemeinen unterstütze, könnten einige doch noch umdenken. Denn „checks and balances“ zwischen Präsident und Parlament sieht der erste Entwurf nicht vor. Der Präsident wird quasi zum Gesetzgeber. Vom US-Föderalismus haben wir die relative Unabhängigkeit der Einheiten in ihrer regionalen Gesetzgebung übernommen.

Wer wird das ganze nun aufbauen? Woher kommen die Experten, die Beamten, die mit westlichen Rechtssystemen vertraut sind?

In der Tat ein Problem. Ich hoffe wir können sie uns aus Deutschland, den USA und anderen Ländern borgen. Das Europaparlament hat uns Hilfe schon angeboten. Interview: Klaus-Helge Donath

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