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INTERVIEW»Eine Heilung ist häufig nicht möglich«

■ Martin Sparmann, Oberarzt in der Klinik Oskar-Helene-Heim, zu den Folgen des S-Bahn-Surfens

taz: Was für Verletzungen entstehen beim S- und U-Bahn-Surfen?

Martin Sparmann: Die Verletzungen sind katastrophal. Entweder sind sie tödlich, oder es handelt sich um schwere innere Verletzungen. Häufig müssen Extremitäten amputiert werden, weil die Verletzungen durch Hochgeschwindigkeiten zustande gekommen sind. Eine Heilung ist meist überhaupt nicht möglich. Oft werden die Patienten mit der Frage hier eingeliefert, ob wir den abgerissenen Arm oder das Bein wieder replantieren können. Meistens können wir es nicht. Wenn die Extremitäten erhalten werden können, sind diese häufig nicht mehr voll belastbar. Sie bleiben in ihrer Funktion gemindert.

In was für einem Zustand befinden sich die Patienten, die bei Bewußtsein sind, wenn sie ins Krankenhaus eingeliefert werden?

Sie sind im Schock. Es ist eine ähnliche Situation wie bei Querschnittslähmungen, die zum Beispiel im Rahmen von Fallschirmspringen eintreten. In den ersten Wochen wird die Verletzung oder Verstümmelung verdrängt, dann kommt sie langsam in den Erkenntnisbereich, wird in ihrer Auswirkung aber relativ lange in dem Sinne bagatellisiert: Das wird schon wieder. Die eigentliche Verarbeitung dauert mindestens ein Jahr. Es sind Unfälle, die den Menschen aus seiner ganzen Lebensperspektive reißen. Die Folge sind Beziehungskrisen, Umschulungsmaßnahmen und dergleichen mehr.

Wie viele solcher Patienten wurden bislang im Oskar-Helene-Heim behandelt?

Ungefähr zwanzig. Das ist nur ein Teil der verletzten S-Bahn-Surfer, weil viele schwere Kopfverletzungen davontragen, die in neurochirurgischen Kiniken behandelt werden müssen.

Was motiviert die Jugendlichen zum Surfen?

Das sind sehr unterschiedliche Beweggründe. Nervenkitzel, Mutproben, aus der Menge herausragen, Suff, Übermut, Blödsinn, so etwas spielt da alles eine Rolle.

Was müßte getan werden, um sie davon abzubringen?

Es ist kein Problem der mangelnden Information. Die Jugendlichen sind nicht so dumm, daß sie nicht wissen, daß man dabei gegen einen Pfeiler knallen kann. Sie lesen doch jeden Tag in der Zeitung, daß sich Leute die Finger, Hände oder Beine abgerissen haben. Das sind ja alles Symptome einer Krise der Jugend: Skinheads, Ausländerfeindlichkeit, all dieser Blödsinn. Ich denke, daß diese Gesellschaft jungen Menschen zum Teil keine Perspektive und Lebensmotivation anbietet. Die Folge ist, daß manche jungen Menschen meinen, sie könnten sich öffentlich nicht anders beweisen oder behaupten, als mit so einer häufig tödlich verlaufenden Aktion. Das ist ein sehr tiefgehendes gesellschaftliches Problem. Die Frage ist, wie kann man aus einer relativ inhumanen Gesellschaft eine humane machen. Interview: Plutonia Plarre

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