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INTERVIEWEine rot-grüne Alternative auch für Deutschland

■ Hessens SPD-Ministerpräsident Hans Eichel (50) zum Kurs seiner Koalition in den Bereichen Asyl, Atom und Innere Sicherheit

taz: Herr Eichel, in der ersten rot- grünen Koalition unter Holger Börner brachen bereits nach einem Jahr die Konflikte auf. Wie ist denn heute, nach einem Jahr rot-grüner Regierung unter Ministerpräsident Hans Eichel die Stimmung?

Eichel: Da antworte ich mit einem Zitat aus der 'FAZ‘: Hessen hat eine der stabilsten Regierungen der Republik. Dieser Einschätzung habe ich nichts hinzuzufügen.

Auch in Hessen gab es Auseinandersetzungen in Sachen Asylpolitik. Sie selbst haben den sogenannten Allparteienkompromiß scharf kritisiert. Was konkret unterscheidet die hessische Asylpolitik etwa von der Asylpolitik in Baden-Württemberg?

Lassen sie mich zunächst sagen, daß wir in Hessen zu einer gemeinsamen Linie gefunden haben, ohne daß es zu Auseinandersetzungen zwischen den Koalitionspartnern gekommen ist. Die Brandstifter sitzen bei CDU/ CSU und FDP — auch wenn ich nicht immer damit einverstanden war, was die Bundestagsfraktion meiner Partei gemacht hat. Der Entwurf der Bundesregierung ist kein Beitrag zur Vereinfachung und Beschleunigung der Asylverfahren, weil konkret nichts von dem umgesetzt wurde, was Gegenstand des Allparteienkompromisses war. Die Akten bleiben in Zirndorf weiterhin unbearbeitet liegen. Und bei der Überlassung von Kasernen für die Einrichtung von Gemeinschaftsunterkünften blockt die Bundesregierung. Spätestens als Herr Schäuble im Herbst 91 erneut die Sache mit der Grundgesetzänderung aus der Tasche zog, hätte den Sozialdemokraten in Bonn klar sein müssen, daß es mit diesem Partner in dieser Frage keine gemeinsame Politik geben kann.

Ist aber nicht die SPD dabei, in der Asylfrage umzufallen — wie bei der Mehrwertsteuer? Die Stimmen in der SPD für eine Grundgesetzänderung werden lauter.

Nein. Klar ist, daß die Änderung des Artikel 16 nichts bewirkt. Fest steht aber, daß man sich in Maastricht um eine einheitliche europäische Lösung für eine Einwanderungs- und Asylpolitik gedrückt hat. Dabei muß der deutsche Rechtsstandard gewahrt werden. Asylrecht ist ein Individualrecht. Und deshalb muß ein Verwaltungsakt in einem Asylverfahren durch Gerichte nachprüfbar bleiben. In Hessen haben wir schon lange vor dem sogenannten Kompromiß in Bonn Maßnahmen zur Verfahrensbescheunigung ergiffen und das Personal in den Ausländerbehörden und bei den Gerichten aufgestockt. Wir werden in Hessen keine Massenlager einrichten, sondern Gemeinschaftsunterkünfte für maximal 500 Menschen. Und deshalb ist die hessische Asylpolitik wesentlich humaner als etwa in Baden-Württemberg, obwohl das Land weitaus mehr Flüchtlinge bei der Erstaufnahme betreuen muß als der Quote nach vorgesehen. Das entspricht der liberal-toleranten Tradition des Landes.

In der Debatte um die Stasi-Akten haben Sie mit Ihrer Äußerung „Deckel zu!“ viel Staub aufgewirbelt und vor allem im Osten scharfe Proteste provoziert. Was hat Sie veranlaßt, sich derart massiv einzumischen?

Ich habe mit dieser Äußerung, die in der Tat einseitig war, deutlich machen wollen, wie eigentlich der Rechtsstaat mit diesen Akten hätte umgehen müssen. Es sind nach unseren rechtstaatlichen Kriterien illegale Akten. Und deshalb hätten sie nicht verwendet werden dürfen. Mir hat sich der Eindruck aufgedrängt, daß das MfS nachträglich noch einen Sieg davonträgt, wenn jetzt nach dem Zusammenbruch der DDR in der gemeinsamen Bundesrepublik die Stasi-Akten quasi als beweiskräftige Unterlagen gehandelt und gegen bestimmte Personen benutzt werden. Wie kommen wir eigentlich dazu, illegal entstandene Akten, die Dokumentationen eines Unrechtsregimes sind, für eine Art Lackmustest in Sachen Demokratie heranzuziehen und damit die Integrität und Demokratiefähigkeit von Menschen zu eruieren. Man kann diese Akten natürlich nicht vernichten, denn sie sind Bestandteil der deutschen Geschichte. Man darf sie aber auch nicht der Sensationspresse überlassen. Ich könnte mir vorstellen, daß sich eine internationale Historikerkommission damit beschäftigt, mit Experten von Frankreich bis Polen. Natürlich müssen Betroffene die Akten weiterhin einsehen können. Aber das Rechtsinstitut des Prangers wurde schon im Mittelalter abgeschafft.

Wie wir inzwischen wissen, hat sich auch der Verfassungsschutz illegal Informationen beschafft oder an unbefugte Dritte weitergebenen. Auch der VS hat sich nicht immer an rechtstaatliche Prinzipien gehalten. Welche Rolle soll er im vereinten Deutschland in einem Bundesland mit den von Ihnen angeführten liberalen Traditionen spielen?

Dieser Staat wird von den Bürgern getragen. Und deshalb darf es kein Mißtrauen gegen die Bürger geben, aber sehr Wohl ein Mißtrauen der Bürger gegenüber staatlichen Einrichtungen. Ich bin deshalb nicht grundsätzlich gegen den Verfassungsschutz, weil es in der Tat noch immer Leute gibt, die versuchen, die demokratische Ordnung zu unterminieren. Ich erinnere nur an das Wiederaufleben des Rechtsextremismus. Da bin ich schon froh, daß es Leute gibt, die diese Szene beobachten. Ich halte es für unzulässig, den Verfassungsschutz mit der Stasi zu vergleichen. Selbst ein Größenvergleich macht schon die riesigen Unterschiede deutlich. In Hessen arbeiten etwa 250 Menschen für den VS — und wir wollen die Zahl noch verkleinern. Selbstverständlich müssen auch die Dienste hier sehr genau parlamentarisch kontrolliert werden.

Sind die Parlamente dazu in der Lage — Stichwort BASF-Skandal oder die Kronzeugen-Affaire?

Rechtsverstöße wird es immer geben. Was etwa in Berlin oder jetzt in Ludwigshafen passiert ist, ist schlimm und muß geahndet werden. Diese schwarzen Schafe bedrohen allerdings den Rechtstaat nicht. Wir schauen den Diensten hier in Hessen genau auf die Finger. Was die Frage nach neuen Aufgabenfeldern für die Verfassungsschützer angeht, habe ich einen wichtigen Bereich schon genannt: den Rechtsextremismus. Andere Bereiche sind die organisierte Kriminalität und die Wirtschaftskriminalität. Es gibt gute Gründe zu überlegen, ob nicht der Verfassungsschutz gerade in diesem Bereich tätig werden sollte — bei Wahrung der rechtstaatlichen Prinzipien.

Auch in der Atompolitik haben Sie Ihrem Umweltminister im Konflikt mit Bonn bislang immer den Rücken gedeckt. Wann ist in Hessen der angestrebte Ausstieg aus der Atom- und Plutoniumwirtschaft vollzogen?

Es hat wegen der Problematik in und um Hanau noch nicht einmal eine besondere Kabinettssitzung gegeben, weil wir in den Koalitionsvereinbarungen einen klaren Kurs verabredet haben: Wir wollen raus aus der Kernenergie. Was wir in Hessen zu tun haben, ist, für die Sicherheit der Menschen und für die Rechtmäßigkeit des Betriebs der Anlagen zu sorgen. Und genau das macht Joschka Fischer — mit ganz soliden, juristisch durchdachten Maßnahmen. Aber weil das Atomrecht kein Ausstiegsrecht ist, kann ich für einen Ausstieg keinen Zeithorizont benennen. Aber die Zeit arbeitet für uns.

Was den Haushalt anbelangt, sind die Spielräume extrem eng geworden. Welche Projekte wollen Sie in Hessen in den nächsten drei Jahren noch realisieren?

Der Kampf gegen die Wohnungsnot hat für mich Priorität — selbst wenn wir deshalb an anderen Stellen den Rotstift ansetzen müßten. Dann wollen wir im Bildungs- und Ausbildungsbereich Investitionen in die Zukunft tätigen. Allein in diesem Jahr haben wir knapp 300 neue Stellen an den Hoch- und Fachhochschulen des Landes geschaffen, denn die hohen Studentenzahlen entsprechen längst dem Level anderer Industrienationen und sind deshalb der Normalfall geworden. Und der dritte Bereich ist die Innere Sicherheit, ein Thema, das vor allem im Rhein- Main-Gebiet eine große Rolle spielt. Wir können die Polizei nicht länger in einen völlig aussichtslosen Kampf, etwa gegen die Beschaffungskriminalität jagen. Drogenkonsumenten sind Kranke. Und gegen Krankheiten helfen nur Ärzte und Sozialarbeiter. Entsprechende Initiativen von uns wird es im Bundesrat geben. Dagegen müssen die Drogenkartelle und die Geldwäscher auch polizeilich intensiver bekämpft werden. Und bei unserer Konzeption werden dafür bei der Polizei Kapazitäten frei.

Sozialdemokraten etwa in Baden-Württemberg halten die Landesregierung in Hessen für ein Paradebeispiel dafür, daß die SPD heute ohne Risiko mit Grünen koalieren kann. Ist Hessens Koalition vielleicht ein Modellfall auch für Deutschland geworden?

Die SPD ist gut beraten, wenn sie erkennt, daß es eine rot-grüne Alternative für sie gibt. Die sozial-ökologische Koalition ist eine politische Konstellation, die Entwicklungen etwa in der Umwelt- und Verkehrspolitik ermöglicht, die andere Konstellationen verunmöglichen. Und deshalb muß man schon dafür Sorge tragen, das diese Konstellation auch für Deutschland möglich wird.

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