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INTERVIEWGrundgesetzänderung wäre eine „grobe Täuschung“

■ Der frühere Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans-Jochen Vogel, zur neu entflammten Asyldebatte

taz: Herr Dr. Vogel, seit den Landtagswahlen vom vergangenen Sonntag rücken viele SPD-Politiker von der bisherigen sozialdemokratischen Parteilinie zur Asylpolitik ab. So hat der nordrhein-westfälische SPD-Fraktionschef, Friedhelm Farthmann, erklärt, „keine Hemmungen“ zu haben, einer Änderung des Artikels 16 GG zuzustimmen. Wie bewerten Sie solche Äußerungen?

Hans-Jochen Vogel: Die Äußerungen von Herrn Farthmann kenne ich nicht im Wortlaut. Ich habe deshalb auch nicht die Absicht, dazu Stellung zu nehmen. Ich selbst bin unverändert der Meinung, daß es keine überzeugenden Argumente für die Behauptung gibt, eine Verfassungsänderung würde das Problem besser lösen als das Verfahrensänderungsgesetz. Auf ein solches Gesetz hatten sich die Parteien schon im Oktober letzten Jahres verständigt. Die Union hat jedoch die Umsetzung durch ihre kampagneartige Forderung nach einer Verfassungsänderung immer wieder behindert.

Jetzt wird gesagt, daß eine Verfassungsänderung deshalb nötig sei, weil man dann diejenigen Asylbewerber, die in anderen europäischen Ländern schon abgelehnt wurden, zurückschicken könne. Bei 256.000 Bewerbern im letzten Jahr waren das genau 100 — also weniger als 1 Promille. Die Union hat sich ängstlich gehütet, diese Zahl jemals zu nennen. Dann ist gesagt worden, man könne nach einer Grundgesetzänderung die Asylbewerber an der Grenze zurückschicken. Auch das ist eine grobe Täuschung, weil sich von den 256.000 nur drei Prozent an der Landesgrenze und nur weitere fünf Prozent auf dem Frankfurter Rhein- Main-Flughafen melden. Die anderen sind aufgrund der von allen Seiten gewollten Reisefreiheit längst im Lande, wenn sie sich bewerben.

Weiter behauptet die Union, es gäbe nach einer Grundgesetzänderung keine langwierigen Verfahren mehr. Auch das ist eine Täuschung. Selbst wenn der Artikel 16 völlig aufgehoben würde, müßte in einem geordneten Verfahren mit richterlicher Kontrolle geprüft werden, ob nicht die Genfer Flüchtlingskonvention dem Betroffenen ein Recht gibt, hier zu bleiben. Die CDU-Kampagne führt insgesamt in die Irre, und daran hat sich durch das Wahlergebnis überhaupt nichts geändert.

Notwendig ist, das Verfahrensänderungsgesetz so rasch wie möglich in Kraft zu setzen, damit diejenigen, die nicht politisch verfolgt werden und kein Recht haben, bei uns zu bleiben — und das sind 60 bis 70 Prozent —, rasch wieder in ihre Heimat zurückkehren. Außerdem muß der Innenminister endlich die Hunderte von offenen Stellen besetzen, damit schneller entschieden werden kann. Selbst Herr Geißler sagt ja inzwischen, daß eine Verfassungsänderung so gut wie nichts bringt.

Erfunden hat diese CDU-Kampagne der von mir im übrigen sehr respektierte Herr Schäuble. Der hat seinen baden-württembergischen Parteifreunden empfohlen: ,Macht die Asylkampagne mit dem Artikel 16, und dann werdet ihr ein glänzendes Wahlergebnis erreichen.‘ Nun ist ihm die Sache in der Hand explodiert, und Schäuble hat eine hohe Mitverantwortung dafür, daß die CDU zehn Prozent verloren hat. Darüber sollte die CDU gründlich nachdenken.

Bleibt die SPD, bleiben Sie persönlich bei der Position, daß das Asylrecht als Individualrecht zu verteidigen ist?

Ich halte mich an die Kleiderordnung. Und nach der bin ich nicht mehr berechtigt, für die Fraktion oder die Partei zu sprechen. Persönlich bleibe ich dabei, daß das Asylrecht ein Individualrecht ist und bleiben muß. Im übrigen ergibt sich ja ein Anspruch auf individuelle Überprüfung schon aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Selbst der rabiateste Asylkampagnenbetreiber hat ja bisher noch nicht gefordert, daß wir diese Konvention kündigen sollen.

Heißt das, daß auch die von der Union und einigen SPD-Politikern vorgeschlagene Erstellung einer Liste von Ländern, in denen es keine politische Verfolgung gibt, die individuelle Überprüfung nicht ersetzen kann?

Ich wünsche dem Unternehmen „Länderliste“ viel Erfolg. Es müßten ja dann interessante Diskussionen geführt werden. Etwa, ob die Türkei auf die Liste kommt oder nicht. Das sind alles Vorschläge, die einer Überprüfung nicht standhalten. Wenn jemand aus Polen oder der Tschechoslowakei kommt, dann brauche ich keine Liste, sondern dann kann durch eine Rundverfügung dem entscheidungszuständigen Beamten klargemacht werden, daß solche Ersuchen in 99 von 100 Fällen sofort abgelehnt werden.

Im Einzelfall könnte es auch in den genannten Ländern politische Verfolgung geben. Wenn man das Individualrecht nicht abschaffen will, bringen die Länderlisten also nichts?

Gut, wenn der einzelne etwas vorbringt, was völlig aus dem Rahmen fällt, wird man die Sache gründlicher prüfen. Aber wenn zum Beispiel 2.000 Menschen aus Polen kommen, dann wird bis 1995 völlig klar sein, daß sie keinerlei Verfolgung unterliegen. Die Länderlisten bringen Ärger mit den beteiligten Ländern und sonst nichts.

Wird die SPD-Bundestagsfraktion beim Nein zur Grundgesetzänderung bleiben?

Ich sehe nicht, daß ich mit meiner Auffassung in der Fraktion allein wäre.

Wie sollte die SPD auf die Stimmengewinne der rechtsradikalen Parteien reagieren?

Sie sollte sich klarmachen, worauf der Protest der Wähler beruht. Das ist erstens eine Verdrossenheit darüber, wie die Parteien miteinander umgehen. Zweitens wenden sich viele ab, weil in der Politik in letzter Zeit nicht ehrlich genug argumentiert wird, zum Beispiel bei den Kosten der deutschen Einheit. Das gilt vor allem für die Union. Lafontaine und die SPD waren näher bei der Wahrheit. Drittens müssen die Parteien und Politiker in allen Fragen der eigenen Versorgung sensibler werden. Nicht mehr die Politiker selber sollten über die Diäten entscheiden können, sondern ein unabhängiges Gremium. In diese Richtung müßte die Diskussion gehen. Interview: Walter Jakobs

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