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INTERVIEW„Der Verfall ist auch ein Problem unserer Kultur“

■ Tullio De Mauro (60), Professor für Italienkunde in Rom, über den Zusammenhang von Bildung und Gesellschaft

taz: Tullio De Mauro, wohin treibt Italien?

De Mauro: In eine sehr berunruhigende Richtung. Und das ist keineswegs nur ein Problem korrupter Politik und veralteter Administrationen. Es ist vor allem ein kulturelles Problem, ein Problem der Information, der Bildung, der Aufklärung. An all dem hapert es, und ich wiederhole: nicht nur wegen der Unwilligkeit der Politiker.

Sondern?

Auch wegen der Trägheit der Italiener selbst. Italien hat, gemessen an den Ausgaben anderer Länder Europas — im übrigen nicht nur Mittel- und Nordeuropas, sondern auch beispielsweise Spaniens —, sehr wenig in sein Bildungssystem investiert. Die Lektüre von Tageszeitungen etwa beschränkt sich bei uns auf weniger als zehn Prozent der Bevölkerung. Das ist weniger als die Hälfte des europäischen Durchschnitts. Wir haben in Italien keine öffentlichen Bibliotheken mehr — das heißt, wir haben sie, aber sie sind geschlossen oder derart in Unordnung, daß man darin nicht arbeiten kann. Der Fremdsprachenunterricht findet kaum statt, gerade 14 Prozent der Bevölkerung kann ein paar Worte Englisch.

Wie kommt das?

In anderen Ländern wie Frankreich, den USA und Deutschland gilt Bildung als Kapital, in Italien nicht. Da sehen die Menschen ja von Kindesbeinen an, daß weniger Bildung und Information als vielmehr Schlitzohrigkeit, Skrupellosigkeit und oft kriminelles Handeln zum Erfolg führen. Sie sehen und hören von Menschen, die gestern nicht mal eine Lira besaßen und heute Liremilliardäre sind. Das wiederum wird — und hier entwickelt sich dann die fatale Dialektik — durch ein völlig konfuses administratives System und durch zu klaren Gesetzen unfähige Politiker gefördert, so daß Hintertreibung und Betrug nicht mehr nur möglich, sondern zur Norm werden. Daß dieses System aber so chaotisch ist und die Politiker unfähig sind, hängt wiederum mit der mangelnden Bildung zusammen: Die Beamten verstehen einfach nicht, was an Anforderungen auf sie zukommt.

Gibt es da noch Auswege?

Mussolini sagte immer, wenn er Initiativen abblocken wollte: „Das Thema steht nicht auf der Tagesordnung.“ Unsere Politiker, aber auch unsere Mitbürger, halten sich auch in der Demokratie an diese Maxime: Bildungsreform steht genausowenig auf der Tagesordnung wie eine Reform der Institutionen: Zwar wird viel darüber geredet, aber nichts getan. Nun könnte man — ihr als Deutsche würdet es wohl sofort sagen — meinen, daß man dann einfach etwas tun müßte. Aber genau das ist auch eine der Konsequenzen aus unserem Kulturverfall: Selbst wenn wir wollten, wissen wir gar nicht, wie man so etwas anpackt. Unsere Beamten und Politiker sind nicht zum Blick über den Zaun imstande, weil sie keine Fremdsprachen können. Sie kommen mit moderner Verwaltung nicht zurecht, weil sie niemanden haben, der sie ihnen beibringt. Sie betreiben eine feudalistische Politik, weil sie nicht aufgeklärt genug sind, die Welt von heute zu verstehen. Woher soll da ein Wandel kommen? Ich bin, ehrlich gesagt, zum ersten Mal in meinem Leben sehr, sehr beunruhigt über mein Land.

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