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INTERVIEW»Aggressivität weit über normalem Verhalten«

■ Die Psychiaterin Hannelore Schernikau zur Motivation der vier Jugendlichen, die sich im Tierpark austobten

taz: Frau Doktor Schernikau, was könnte die vier Jugendlichen aus Friedrichsfelde dazu veranlaßt haben, im Tierpark Vögel und Schafe zu quälen und zu töten?

Hannelore Schernikau: Was die Motivation angeht, bin ich genauso sprachlos, wie die gesamte Bevölkerung. Es handelt sich hier um einen aggressiven Akt, der weit über die normalen Verhaltensweisen Jugendlicher hinausgeht. In der Adoleszenz gehört die Auseinandersetzung mit autoritären Traditionen und gesellschaftlichen Normen ja zum pubertätsspezifischen Entwicklungsprozeß: Ablösung vom Elternhaus, Gruppenfindung bis hin zur Eigenfindung und Eigenständigkeit. Das alles stellt den Jugendlichen vor erhebliche Entwicklungsaufgaben. Er muß Selbstvertrauen finden, eigene Werte und soziales Rollenverhalten aufbauen. Das ist eine kritische Phase, die eine besondere Beachtung und gewisse Vorbildhaltung von Familie und Gesellschaft erfordert. Aber so eine schwere Auffälligkeit wie der Vorfall im Tierpark spricht wohl dafür, daß in der emotionalen und sozialen Entwicklung der Jugendlichen Störfaktoren vorhanden sein müssen.

Die Jugendlichen selbst sollen die Tierquälereien mit Langeweile und Spaß an sportlicher Betätigung begründet haben.

Wenn eine solche Aggressivität aus reiner Langeweile erfolgt, steht dahinter, daß die Fremdwertsysteme einfach nicht funktionieren, die an sich eine Hemmung gegenüber Wehr- und Schutzlosen bewirken. Aggressivität kann ja die unterschiedlichsten Ursachen haben. Es kann eine ganz aktive spontane Aggression sein, die als defensive Aggression bezeichnet wird. Aber sie kann auch aktiv destruktiv sein mit ausgesprochener Feindseligkeit und Zerstörungswillen. Bei den Jugendlichen liegt wohl letzteres vor, auch wenn sie sich darüber selbst nicht im klaren sind.

Gab es ähnliche Gewaltausbrüche auch schon zu DDR-Zeiten?

Latent war dies sicher der Fall. Aber die Sozialfehlverhalten haben sich in der Vergangenheit auf einer anderen Ebene gezeigt, da sie von der Öffentlichkeit sehr viel strenger und schneller reglementiert wurden. Die Angst vor der Polizei war einfach größer.

Ist die Zunahme der Brutalität auf die Wende zurückzuführen?

Bei den Jugendlichen kommen vermutlich mehrere Faktoren zusammen: eine vorhergehende emotionale und soziale Entwicklungsstörung und eine zusätzliche psychosoziale Belastung durch eine verminderte Kontrolle der Freizeitgestaltung und größerer Liberalisierung. Dazu kommt die Verunsicherung der Gesamtbevölkerung, die nicht eingreift oder zu lange wartet, um überhaupt positive Vorbildzeichen zu setzen.

Was ist Ihre Prognose für die Zukunft? Rechnen Sie noch mit ganz anderen Exzessen?

Wir können nicht beim Symptom Gewalt anfangen, sondern müssen viel tiefer ansetzen. Es müssen ganz andere Lebenseinstellungen geprägt werden. Hier müssen wir alle mitarbeiten. Aber das wird ein sehr langer Prozeß sein. Interview: Plutonia Plarre

Hannelore Schernikau ist Chefärztin der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie im Wilhelm- Griesinger Krankenhaus in Marzahn.

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