INTERVIEW: „Ganz offensichtlich waren die Menschen nicht ganz bei Sinnen“
■ Für den Schriftsteller Walter Kempowski wird bei den ausländerfeindlichen Krawallen in seiner Heimatstadt „ein Trauma sichtbar, das heilbar sein sollte“
Der 1929 geborene Schriftsteller Walter Kempowski war 1948-56 wegen angeblicher Spionage in politischer Haft in Bautzen. Er wurde mit seiner teilweise verfilmten, mehrbändigen „Chronik des deutschen Bürgertums“, darunter „Tadellöser und Wolff“ (1971) bekannt. Heute lebt er als Lehrer in einem Dorf in Norddeutschland.
taz: Herr Kempowksi, was sagen Sie als Rostocker zu den Ereignissen in Ihrer Heimatstadt?
Walter Kempowski: Was soll ich dazu sagen? Das, was ich am Bildschirm verfolgen konnte, war abstoßend, ja mittelalterlich. Auf der einen Seite die unter Schutzhelmen und hinter Schilden vorrückenden Polizeiketten, auf der anderen hin- und herflutende Steinewerfer, Feuerbögen der Molotowcocktails darüberhin. Und dazwischen eine Wand von Schaulustigen, für die das Ganze eine Art Feuerwerksbelustigung zu sein schien. Ganz offensichtlich waren die Menschen nicht ganz bei Sinnen.
Hätten Sie einen solchen Ausbruch von Gewalt in Rostock für möglich gehalten?
Nun, ganz unerwartet kam mir die Sache nicht. Abgesehen davon, daß man nach vierzig Jahren sozialistischer Erziehung auf allerhand gefaßt sein muß — zufällig war ich in den Tagen davor in Rostock, und da merkte ich schon, daß sich etwas zusammenbraute. Ich sah in den Straßen kleine Trupps von Jugendlichen, die etwas in die Gegend schrien. Und dann hatte ich verschiedene alarmierende Gespräche, in denen mir die verzweifelte Lage der jungen Menschen geschildert wurde. Allgemein war man der Meinung, daß eine Explosion unmittelbar bevorstünde. Bei der nächsten Wahl, so wurde auch gesagt, werde es in Rostock dreißig Prozent für die Republikaner geben.
Die Wut der Jugendlichen richtete sich gegen die noch Schwächeren, gegen Asylanten.
Streng genommen: nicht gegen Asylanten, sondern gegen Menschen, die Asyl beantragen wollen. Bekanntlich wird nur ein geringer Bruchteil der Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, als politisch verfolgt anerkannt. Es muß in Rostock besonders krasse Fälle von Mißbrauch des Asylrechts gegeben haben; man hörte von Menschen, die als Lastwagenladungen von Schleppern eingeschleust worden seien. Das hat die Leute aufgebracht.
Die Krawalle sind für Sie also verständlicher Ausdruck des Volkszorns?
Aufgebrachte Menschen, die der Meinung sind, sie würden ausgetrickst von Fremden, die sich an den ohnehin schmalen Futtertrog drängen, neigen zu Gewalttätigkeit, und die richten sich dann gegen die Schwächsten, weil anzunehmen ist, daß man dort am ehesten seinen Frust los wird. Ich wechsle beim Fernsehen öfter den Kanal, und da war es schon grotesk, zeitgleich zur Krawallschlacht in Lichtenhagen in Lübeck die Aufführung des Requiems von Benjamin Britten zu verfolgen. So unterschiedlich die Bilder auch waren, sie gehörten irgendwie zusammen.
Wo ist da der Zusammenhang?
Nun, mir wurde deutlich, daß wir ganz ohne Zweifel am Ende sind mit unserem Zivilisationslatein. Not lehrt beten. Trauernd und traurig verabschieden wir uns vom Optimismus der fröhlichen Macher. In der Tagesschau und in der Sendung heute versuchte man dem Phänomen mit Entrüstung und Sentimentalität beizukommen. Da waren ungemein betroffene Politiker zu sehen, der Bundeskanzler vor einem dekorativen Gemälde, Engholm infantil an der Pfeife saugend, ein SPD-Mann höherer Funktion in Schleswig-Holstein „schämte“ sich sogar, und der Moderator des heute-journals mutmaßte, daß alle Zuschauer einer Meinung seien in der Beurteilung der miesen Vorgänge. Allein im ORF wurde uns vorgeführt, was unter moderner Berichterstattung zu verstehen ist. Unsentimental und faktenreich wurden dem Zuschauer Tatsachen vorgeführt. Da erhielt man keinen Nachhilfeunterricht in Gefühlen.
War die Berichterstattung nicht korrekt?
Was mir fehlte, waren Interviews vor Ort. Als Pädagoge interessiere ich mich mehr für das, was Menschen treibt, als für ekstatische Bilder. In der Pädagogik heißt es: Kümmere dich mehr um die Schwierigkeiten, die jemand hat, als um die, die er dir macht. Mich interessierte nicht die Betroffenheit des Bundeskanzlers. Ich hätte gerne Jugendliche vor der Kamera gehabt, den Stein noch in der Hand, und zwar nicht zu kurzen Statements. Ich hätte mir gewünscht, daß man diesen Menschen die Aufmerksamkeit schenkte, die sie doch erregen wollen. Mit dem Ausdruck „Mob der Straße“ kann ich nichts anfangen.
Und auch die Asylanten erschienen nur im Plural. Ich hätte gern gewußt, wo sie herkommen und was sie veranlaßt hat, ihre Heimat zu verlassen. Da hätte dann der „mündige“ Fernsehzuschauer selber seine Schlüsse ziehen und zu Entschlüssen kommen können.
Und was sollte Ihrer Meinung nach jetzt unternommen werden?
Das weiß ich auch nicht. Aber eines kann ich sagen: Im Zeitalter Siegmund Freuds sollte man kapieren können, daß bei den Exzessen der Rostocker Art ein Trauma sichtbar wird, das heilbar sein sollte. Interview: Willi Winkler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen