INTERVIEW: Ein grundsätzlich austauschbares Vorurteil
■ Prof. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, über akuten und latenten Judenhaß in Rußland und zur Ideologie hinter den deutschen Krawallen
taz: Herr Benz, was unterscheidet diesen Kongreß von anderen Tagungen zum gleichen Thema?
Wolfgang Benz: Dieser Kongreß versucht eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme des Phänomens Antisemitismus — und zwar von Ländern, in denen das Problem derzeit besonders virulent ist. Wir haben nicht die Absicht, Volkserziehung zu betreiben oder gar Politikern mit Vorschlägen ins Gewissen zu reden. Unsere Aufgabe ist es zu beschreiben, was vorliegt, Bausteine über aktuellen Antisemitismus und verwandter Vorurteilsstrukturen zu sammeln und diese zu analysieren, um Entwicklungen zu erkennen und zu bewerten.
Russische Forscher bewerten den Antisemitismus in der ehemaligen Sowjetunion sehr unterschiedlich. Die Einschätzungen auf der Tagung bewegten sich zwischen „latent“ und „hochgefährlich“...
Das Bemerkenswerteste an den Erscheinungsformen des Antisemitismus in Osteuropa, insbesondere auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR, ist, daß dort ein krasser Rückfall ins 19. Jahrhundert zu verzeichnen ist — so als ob das sozialistische System des 20. Jahrhunderts nie existiert hätte. Wir erfahren die Wiedergeburt von alten Ideologien und das Auftischen alter Rezepte. Wir hören alte Vorwürfe, uralte Verschwörungstheorien werden aus der Mottenkiste hervorgeholt und angereichert mit traditionellen Versatzstücken wie beispielsweise den Protokollen der Weisen von Zion (antisemitische Schrift aus der Zeit des zaristischen Rußland; d. Red.). Die ganzen Pamphlete und Broschüren aus jener Zeit werden — und das ist das Unglaubliche daran — unmittelbar in die aktuelle politische Debatte eingebracht und dienen zur Ausgrenzung einer Minderheit. Und es funktioniert sogar.
Welchen Wert messen Sie den auf dem Kongreß präsentierten russischen Meinungsumfragen bei, wonach der aggressive Antisemitismus in den GUS-Staaten nur ein marginales Problem sei?
Meinungsumfragen haben immer nur eine begrenzte Aussagekraft. Ich würde die Demoskopie immer nur als eine Hilfswissenschaft zur Annäherung an die Wirklichkeit verstehen. Die Auswertung ist eine Wissenschaft, und es ist grundverkehrt, wenn man solcherart Bilanzen als die ganze Wahrheit nimmt.
Der Antisemitismus in Osteuropa wurde als Neuauflage des Judenhasses interpretiert und bewußt abgegrenzt von anderen ethnischen Vorurteilen. Was, meinen Sie, ist Antisemitismus in Deutschland?
Wir müssen den Begriff des Antisemitismus nicht nur für Deutschland, wir müssen ihn generell erweitern. Antisemitismus ist das älteste Vorurteil, ist sozusagen das Leitfossil der Diskriminierung überhaupt. Antisemitismus ist nicht nur die Feindschaft gegen Juden; es geht dabei um Vorurteile gegen Minderheiten, um die Ausgrenzung von und Gewalt gegen einzelne oder Gruppen, die als fremd angesehen werden.
Sind die Krawalle in Rostock, Wismar und anderswo deshalb im Kern antisemitisch?
Das Element Antisemitismus spielt bei solchen Exzessen immer eine Rolle. Das Vorurteil Antisemitismus ist grundsätzlich austauschbar. Es funktioniert mit oder ohne Juden genauso gut. Man kann statt Juden auch Türken, Afrikaner oder Radfahrer nehmen. Insgesamt ist es leichter, das, was in Rostock passierte, zu beklagen, als zu analysieren. Da kommen viele Komponenten zusammen: der soziale Streß, der ökonomische Frust, die fehlenden Strukturen nach dem Zusammenbruch des Obrigkeitsstaates und der Versuch der Vergangenheitsbewältigung auf dem Rücken der Schwächsten. Man randaliert gegen die Ausländer, die sich am untersten Ende der sozialen Skala befinden — wo man selbst nicht sein möchte. Darüber hinaus ist es ein Aufstand gegen die Eltern, die sich über Jahrzehnte an die autoritären Strukturen angepaßt haben. Die Politiker wären gut beraten, wenn sie die aktuellen Vorgänge im großen Zusammenhang von bekannten Vorurteilsstrukturen erkennen würden. Als Wissenschaftler kann ich nur prophezeien, was sich aus Rostock entwickeln könnte, wenn Politiker ihre Pflicht versäumen... Interview: Anita Kugler
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