IN ZEITEN WIE DIESEN WIRD HAMBURG VON URIN ÜBERSCHWEMMT. LEIDEN ALLE MÄNNER DIESER STADT AN BLASENSCHWÄCHE? : Das Problem des öffentlichen Penis
KATRIN SEDDIG
Die Stadt Hamburg hat ein Problem, das Problem des öffentlichen Penis. Am Freitag war ich mit dem Fahrrad unterwegs und durfte dabei unfreiwillig drei Blicke auf drei Penisse werfen. Ich wohne seit 17 Jahren in Hamburg und ich habe in diesen 17 Jahren keine einzige Frau in der Öffentlichkeit pinkeln sehen, aber ich sehe im Schnitt jeden zweiten Tag einen Mann gegen einen Baum strullen. Was ist los, mit den Männern dieser Stadt? Leiden sie alle an Blasenschwäche? Geht ein Gerücht um, das Gerücht, dass der Mann das Recht besitzt, ihn öffentlich zu schwenken und sich frei an jeder Hauswand und jedem Baum zu entleeren?
Eine Fußballweltmeisterschaft lässt die Penissichtungskurve ansteigen. Beim Public Viewing gibt es zwar öffentliche Toiletten, aber davor stehen vor allem die Frauen sich die Beine in den Bauch, denn ein Mann hat das Anstehen nicht nötig, er darf nach altem Recht und Brauch ja anscheinend öffentlich urinieren. So wird in diesen hohen Bierverbrauchszeiten die Stadt von Urin überschwemmt.
Öffentlich urinieren, das gesteht der Hamburger Mann allerdings nur dem Hamburger Mann zu. Der rumänische Mann, der kein Dach über dem Kopf hat und im Park am Nobistor übernachtet, ist eine Zumutung. Dass er keine Toilette dabei hat und auch nicht nach Hause gehen kann, weil er kein Zuhause mehr hat, dass er leider auch nicht auf öffentliche Toiletten zugreifen kann, weil es fast keine öffentlichen Toiletten mehr gibt, das ist sein Problem. Jedenfalls soll er sich nicht im Hamburger Park erleichtern, denn das darf nur der Hamburger Mann. Die Stadt hat allerdings, wenn auch spät, Dixi-Klos aufstellen lassen. Immerhin. Wenn schon keine Unterkunft, dann reicht sie wenigstens Toiletten rüber. Damit die Anwohner nicht verstunken werden. So ist es überhaupt so, dass jeder Mensch ja fast nur Verständnis für sich selbst oder für Menschen in einer ähnlichen Lebenssituation aufbringen kann. Selbst die sogenannten „Vertriebenen“, wenn sie noch leben, können für Flüchtlinge aus anderen Ländern kaum Verständnis aufbringen, weil sie der Meinung sind, dass ihre Situation damals ganz anders gewesen sei.
Der Hamburger Pinkler an sich rechtfertigt sich allerdings für gar nichts. Er reckt mir seinen Penis hin, dass ich fast vom Rad stürze, bis an der nächste Ecke, kaum habe ich mich vom einen Anblick erholt, der nächste mir entgegenpinkelt. Fragt man einen solchen Mann, und ich habe welche in der Bekanntschaft, die sich ähnlich verhalten, dann zuckt er nur mit den Schultern und zeigt kein Schuldbewusstsein. „Wieso, wenn ich muss?“ Und was soll man auch darauf antworten? Wenn einer muss, dann muss er halt. Nur flüchten aus einem Land, in dem er verfolgt wird, in dem es zum Beispiel Krieg gibt, in dem seine Kinder verhungern, das muss keiner. Das soll jeder lieber aushalten. Das sollten die jedenfalls aushalten, die Anderen, mit ihren eigenen Problemen, die nicht unsere sind. Für diese Art Druck herrscht wenig Verständnis.
Ein Freund von mir hat einen kleinen Vorgarten vor seiner Souterrainwohnung auf St. Pauli. In diesem Garten fasst er keine einzige Unkrautpflanze an, denn da dampft es am Wochenende vor Urin. Einen anderen kenne ich, der wohnt auch im Souterrain, der hat quasi gelbe Fenster. Dass es auf St. Pauli wenigstens so viele Toiletten wie Kneipen gibt, wirkt sich nicht dämpfend auf die öffentliche Pullerlaune aus. Es herrscht allgemein eine große Tolerationsgrenze in Sachen Pinkeln.
In Sachen Sinti und Roma allerdings herrscht eine sehr kleine Tolerationsgrenze, was auch damit begründet wird, dass diese einen anderen Lebensstil pflegen als wir. Und das ist nicht hinnehmbar. Fast überall in Europa nicht, weswegen sie möglichst geschickt von einem Land zum anderen vertrieben werden. Katrin Seddig ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012 bei Rowohlt. Am 19. Juni liest sie im Literaturhaus Hamburg aus ihrer Erster-Weltkriegs-Quellenrecherche „Schwarze Schatten“