Hussam Al Zaher Hamburger, aber halal: Von Badelatschen und Normen
Ein warmer Sonntagvormittag, wir wollten spazieren gehen. Meine Schuhauswahl beschränkte sich auf ein paar Sandalen mit Anker-Motiv, wie man sie im Schwimmbad trägt. „Latschen“, sagte meine Frau, „so nennt man die.“ Ich zog sie an, lachte über mich selbst und machte sogar ein Foto.
Dann stellte ich mir die Frage: Gehe ich mit denen morgen ins Büro? Das klingt vielleicht nicht nach einer besonders intellektuellen Fragestellung, aber ich möchte erklären, warum ich tagelang über diese Latschen nachgedacht habe: In Syrien wäre ich niemals mit solchen Sandalen in die Stadt gegangen – obwohl es in Damaskus noch heißer ist als in Hamburg. Solche Latschen wären in meiner Familie maximal im Badezimmer erlaubt gewesen. Das bezog sich auch auf andere Kleidungsstücke: Wenn mein Vater früher einen seiner Söhne oder andere junge Männer in kurzen Hosen sah, hat er immer gesagt: „Das gehört sich nicht.“
Ich komme aus einer traditionellen Familie, aber warum man sich wie kleidet, ist auch eine Frage der gesellschaftlichen Normen. Diese Normen tragen wir weiter oder entscheiden uns aktiv, mit ihnen zu brechen. Für viele Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, die in ein neues Land kommen, sind die neuen Normen wie ungeschriebene Gesetze. Für mich war es wie eine Zwiebel, Stück für Stück zeigten sich mir neue Schichten. Im Integrationskurs bringen sie dir schnell bei, dass man „Guten Morgen“ sagen soll, aber ob ich auf „Moin“ mit einem oder zwei „Moin“ antworten sollte, dass habe ich erst später erfahren – seit einiger Zeit antworte ich übrigens mit „Salam“.
2016 und 2017 habe ich mitbekommen, wie viele ehrenamtliche Helfer*innen erklärten, dass man als junger Mann nicht in Jogginghose zu Vorstellungsgesprächen oder zum Arbeitsamt gehen soll. Das gilt als Tabu, richtig?
Ich habe gelernt, dass es viele Vorstellungen rund um Etikette gibt. Es geht es darum, wie man sich verhält, wie man aussieht, wie man spricht, was man isst, wie man isst und so weiter. Und jede*r hat eine andere Idee davon, warum sich manche Dinge gehören und andere nicht. Die Frage ist: Wie gehen wir damit um, wenn sich jemand gegen die von uns hochgehaltenen Normen verhält? Wenn jemand mit offenem Mund isst, nicht per Handschlag begrüßt oder in Badelatschen ins Büro kommt?
Nehmen wir mal ein negatives Beispiel: Ein junger Syrer, der nach Deutschland geflüchtet ist, stellt sich gegen die Normen, die er hier kennenlernt. Ich spreche nicht über rechtswidriges Verhalten, sondern über Lautsein, Auffälligsein, Mir-doch-egal-Verhalten. Wie begegnen wir diesen jungen Leuten, die behaupten, so leben zu wollen, wie sie es in Syrien gelernt haben?
Verstehen, akzeptieren, mitmachen. So kann es gehen, aber das ist ein Prozess, der viel Zeit braucht. Vor allem, wenn junge Männer allein migrieren, ohne Vorbilder, ohne Eltern, ohne Menschen, die ihnen sagen: „Du musst das jetzt so machen, du musst das akzeptieren.“ Sie haben zu oft niemanden, der ihnen die Richtung weist, ihnen vorlebt, wie man sich treu und gleichzeitig offen für Neues bleibt.
Ich habe in den zehn Jahren, in denen ich in Hamburg lebe, auch vieles falsch verstanden und konnte gewisse Normen nicht einordnen. Was ist, wenn die Teenager und Kinder permanent unter Druck gesetzt werden, Normen zu akzeptieren, die ihre Eltern so nicht vorgelebt haben? Welchen Personen erlaubt die Gesellschaft Tabubrüche, ohne sie abzustrafen? Ab wann sind Normen politisch? Ich bin kein Sozialwissenschaftler, aber ich glaube an gegenseitige Anerkennung und Vertrauensvorschüsse.
Wie gesagt, diese Badelatschen haben mich wirklich zum Nachdenken gebracht. Wenn es mal wieder aufhört zu regnen, denke ich mal darüber nach, sie ins Büro anzuziehen. Aber niemals mit Socken, oder?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen