Hungerstreik eines 70-Jährigen: Onkel Kemals Warten auf die Knochen
Um die Knochen seines toten Sohnes vom Staat zu erhalten, setzt Kemal Gün sein Leben aufs Spiel. Nach 90 Tagen Hungerstreik kommt es zu einer Einigung.
Am 81. Tag des Hungerstreiks lerne ich ihn kennen. Meine Knie zittern, als ich aus dem Auto steige und zu ihm gehe. Er liegt unter einem halbherzig festgemachten Sonnendach ausgestreckt auf einem Liegestuhl.
Dicht an der Statue von Seyit Riza, der mit den Worten „Eine Schande, eine Sünde, eine Grausamkeit“ als Symbol gegen das Massaker in Dersim im Osten des Landes erinnert wird (1937-38 wurden Tausende von Menschen durch das türkische Militär getötet und der 81-jährige Seyit Riza als Aufwiegler gehängt, Anm. d. Redaktion).
Die Luft duftet nach violetten Robinien, die Vögel zwitschern. Es ist frisch an diesem Frühlingstag. Spaziergänger drücken sich im Park an die Absperrungen über dem Munzur-Kanal und betrachten die Aussicht. Auf zu kleinen Hockern genießen Menschen im Park den Tee und die Gözleme-Teigtaschen und blicken verstohlen zum Lager des gebrechlichen, alten Mannes. Hier fließt das Leben gemächlich dahin, aber gleich nebenan fließt das Leben derzeit in die entgegengesetzte Richtung.
Zwei Söhne verloren
Journalistin. Arbeitete bei der Zeitung Milliyet und den TV-Sendern NTV und IMC TV. Derzeit aktiv bei der Onlineplattform haberSIZsiniz, WDR Cosmo und RSF in der Schweiz.
Um die Knochen seines toten Sohnes zu erhalten, setzt Kemal Gün sein Leben aufs Spiel. Als ich bei ihm ankomme, wird es still im Park nebenan. Er ist abgemagert, seine Hautfarbe scheint dunkler als üblich und sein länger gewordener Bart hängt unter der Hygienemaske heraus.
Die Augen schauen schmerzvoll in die Ferne als er mich begrüßt. Der 70-jährige Kemal Gün lebt mit seiner Familie eigentlich im nahegelegenen Erzincan, aber ursprünglich kommt er aus der Stadt Dersim. 1938, während des Massakers von Dersim, wurden sie vertrieben.
Seine zwei Söhne hat er hier in Dersim verloren, beide waren noch in ihren Zwanzigern. Çayan und Murat. Çayan haben sie in Dersim begraben können, aber für das Begräbnis von Murat muss er sein eigenes Leben aufs Spiel setzen.
Der erste Protest seines Lebens
Während meiner Live-Übertragung für die Plattform #haberSİZsiniz frage ich Kemal Gün, ob er davor schon einmal protestiert hat. Nein, noch nie, antwortet er. „Ich bin ein einfacher Bauer, handele mit Tieren. Alle meine Kinder habe ich finanziell unterstützt, so dass sie die höhere Oberschule abschließen konnten.“ Nach einer bestimmten Phase im Hungerstreik verschlechterte sich seine Sehkraft, trotzdem trägt Kemal Gün ein Buch und eine Lesebrille bei sich.
Sein Sohn Çayan wollte ursprünglich Journalist werden, erzählt er, aber bevor er die erste Schritte in diese Richtung machen konnte, wurde er wegen politischer Aktivitäten festgenommen und gefoltert. Nach mehreren Jahren im Gefängnis, erschoss man ihn nach seiner Freilassung in Hozat, einer Kleinstadt in der Nähe von Dersim. Das war im April 2016.
Der ältere Bruder Murat, so erzählt es Kemal Gün, beschloss daraufhin, Guerillo zu werden. Im November 2016 starb auch er. Mit zehn weiteren Kämpfern während eines Bombardements auf deren Rückzugspunkt.
Kein DNA-Test möglich
Im Januar dieses Jahres erfuhr die Familie vom Vorfall durch den Brief von einem Angehörigen der gleichen Organisation, der die Militäroperation überlebte. Erst Ende Februar konnte der besagte Rückzugspunkt inspiziert werden. Bevor Kemal Gün in den Schuttberg durfte, fuhr der Bagger hinein.
„Das waren meine Werkzeuge. Damit habe ich die Erde aufgegraben“, erzählt Kemal Gün mit zittriger Stimme und zeigt auf seine Hände. „Ich entdeckte verbrannte und verkohlte Knochenstücke. Das größte Stück war 6 cm lang. Ich sammelte eine halbe Tüte voller Knochen.“ Und dann? Dann wurde ihm durch staatliche Kräfte die Tüte entnommen. „Kein DNA-Test möglich“ hieß es und er wurde fortgeschickt.
Aber der Vater blieb. „Ich möchte ein Grab für meinen Sohn, an dem ich beten kann“, fordert er und begann für seine Forderung zu hungern. Am 81. Tag hat er bereits 17 Kilo verloren, seine Muskeln haben sich zersetzt und seine Füße sind ständig heiß.
„Er war ein Teil von mir“
„Ich möchte, dass es aufhört. Aber ohne die Knochen meines Sohnes tue ich hier keinen Schritt weg, auch wenn ich dafür mit meinem Leben bezahle. Vielleicht sterbe ich hier. Wenn sie den Schmerz eines Vaters so bestrafen wollen, dann sollen sie sich nur ihrem eigenen Gewissen verpflichtet fühlen. Was auch immer seine Ideologie gewesen sein mag – er war ein Teil von mir. Ich möchte seine Knochen und nichts anderes.“
Ich beendete das Interview hier.
Nach der Live-Berichterstattung konnte ich mich eine Weile nicht von seiner Seite lösen. Ich nahm seinen Arm und er umfasste meinen. Wir saßen einfach da, ohne zu sprechen. Ich schaute dem fließenden Munzur zu und den Pollen, die über ihm schwebten, als wären sie Schneeflocken.
Er schaute auf den Polizeiwagen, der uns aus der Ferne beobachtete. Dachte er über die letzte Frage nach, die ich ihm stellte? Würde der Hungerstreik diese Woche enden?
Mühevolle Fahrten zum Park
20 Uhr. Wie jeden Abend richtet er sich langsam auf. Er kann nicht mehr ohne Hilfe gehen. Genau an diesem Tag erhält er einen Rollstuhl als Spende. Einer der Hunde im Park gesellt sich zu ihm, als Kemal Gün hinsetzt. Aus diesem Park kommt er mit dem Rollstuhl heraus, aber wie soll er den Weg aus dem Park bis zu seiner Wohnung schaffen?
Eine Begleitung erzählt, dass sie am Morgen mit dem Sammelbus gefahren waren und jetzt wohl ein Taxi nehmen müssen. Wir schlagen ihnen entsetzt vor, dass wir sie doch im Auto des Kameramanns fahren könnten. Als wir ihn ins Auto setzen, steht ein gepanzerter Polizeiwagen neben uns.
Wir verabschiedeten uns und ich verfolge nun nach meiner Rückkehr aus Istanbul die Bemühungen der Anwält*innen, Gerichtsmediziner*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und Abgeordneten. Und in der Tat: zwei Tage später wird eine Einigung erzielt.
Knochen werden verschickt – per Post
Das Amt für Gerichtsmedizin (angebunden an das Justizministerium, Anm.d.Redaktion) händigt Kemal Gün die Knochenstücke aus, da sie die DNA-Tests nicht ausführen konnten. Nach genau 83 Tagen! Und jeder weiß, dass diese Knochen nur noch nach Dersim geflogen werden können, nachdem sich ein Vater seit knapp drei Monaten im Hungerstreik befand.
Der ganze Vorgang muss also in Windeseile gelöst werden. Aber so kommt es nicht. Ein Tag, drei Tage, fünf Tage später wird klar, dass die Knochen per Postkurier geschickt wurden. Die Knochenstücke, die Kemal Gün mit den Händen aus der Erde gebuddelt und den staatlichen Stellen ausgeliefert hatte, werden ihm von den staatlichen Stellen zugeschickt – per Post. Damit kann sich der Vater abfinden. Die Tage vergehen, das Paket kommt nicht an.
„Provokations“-Unterlassung
Am 90. Tag des Hungerstreiks wird dem Vater auf Wunsch des Provinzgouverneurs von Tunceli (offizielle Bezeichnung von Dersim. Dersim ist der ursprüngliche kurdische Name der Stadt, Anm.d. Red.) ein Einschreiben zur Unterschrift vorgelegt.
Dort steht: „Mit meiner Unterschrift bezeuge ich, dass mir die Knochen, im Sarg verstaut und ins Todestuch gewickelt, ausgehändigt wurden und ich diese unverzüglich in Hozat bei Tunceli auf dem Friedhof beisetzen werde, ohne einen bedauernswerten Vorfall zu provozieren. Anschließend werde ich alle weiteren Unterlagen dem Amt des Gouverneurs von Tunceli vorlegen.“
Geldstrafen für Besetzung
Welche Ironie, den Vater Kemal Gün unterschreiben zu lassen, dass er keinen „bedauernswerten Vorfall provozieren“ werde. Seine Gesundheit schwindet. Er kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Zudem wurde – nach 90 Tagen stillen Hungerstreiks im Seyit Rıza Park – Kemal Gün beklagenswerterweise mit einer Geldstrafe belegt.
Die „Besetzung des öffentlichen Raums“ kostete jeden Tag 227 Türkische Lira, umgerechnet 56 Euro. Tag für Tag sammelt sich eine beträchtliche Anzahl von Strafbriefen in seinem Haus an. Insgesamt sind es nun über 18.000 TL Strafe, knapp 4.482 Euro.
Am Ende verabschiedet sich Kemal Gün von Seyit Rızas Statue. Der Platz, auf dem er sich niedergelassen hatte, wird nun leer bleiben und wird sich wieder mit Leben füllen. Mit einem bitteren Leben. Nach 90 Tagen wurde Kemal Güns Wunsch erfüllt, er hat seinen Sohn in Hozat bei Dersim beedrigen können.
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