: Hunde der Botanik
Von Kindern gefürchtet, von Ernährungsexperten gepriesen: Lange Zeit wurde Kohl als vermieft abgetan, doch mit der regionalen Küche wird auch das Kraut wieder servierfähig
VON KURT F. DE SWAAF
Er ist ein alter Europäer. Kaum ein Gemüse hat eine so lange Tradition in den Küchen unseres Kontinents wie der Kohl. Den Deutschen verschaffte ihre Vorliebe für Kohl den Spitznamen „Krauts“. Dabei besticht die Pflanze vor allem durch Vielfalt: Generationen von ZüchterInnen haben derart viele Sorten hervorgebracht, dass die Pflanzenart in der Biologie auch als „Hund der Botanik“ bezeichnet wird.
Jede Kohlsorte hat ihren charakteristischen Geschmack; vom bittersüßen Aroma des Rosenkohls bis hin zur herben Frische des Sauerkrauts bieten Kohlgerichte dem Gaumen eine breite Palette. Kein Wunder also, dass die kulinarischen Traditionen Europas einen wahren Schatz an verschiedensten Rezepten bereithalten. Doch Kohl geriet ab den siebziger Jahren aus der Mode und kam – mit Ausnahme des südländisch-hippen Broccolis – in den Ruf der altbackenen Hausfrauenküche. In neuester Zeit scheint sich allerdings eine Wende abzuzeichnen. Feinschmecker und Gourmet-Gurus zeigen wieder Interesse an dem botanischen Multitalent. Das gilt vor allem für den grün-runzeligen Wirsing, der heute zum Repertoire von Modeköchen wie Nigella Lawson und Jamie Oliver gehört. Natürlich liegt die Bedeutung dieses von Kindern gefürchteten Gemüses nicht nur in seinen geschmacklichen Eigenschaften begründet. Ernährungstechnisch hat er’s nämlich in sich, der Kohl, denn er enthält erstaunlich hohe Konzentrationen an Vitaminen – unter denen das lebensnotwendige Vitamin C die wichtigste Rolle spielt.
Je nach Kohlsorte schwankt die Konzentration von Vitamin C zwischen 45 mg/100 g beim Weißkohl und 120 mg/100 g bei Rosenkohl und Broccoli (zum Vergleich: Zitronen enthalten durchschnittlich 52 mg/100 g). Dementsprechend war Sauerkraut – durch Salz und Milchsäuregärung konservierter Weißkohl – jahrhundertelang das wichtigste Nahrungsmittel zur Vorbeugung der gefürchteten Mangelkrankheit Skorbut. Erfreulicherweise wird der Vitamin-C-Gehalt bei den üblichen Zubereitungsweisen nur um maximal 50 Prozent reduziert, sodass z. B. auch gekochter Rosenkohl noch immer eine echte „Vitaminbombe“ ist.
Hohe Konzentrationen an Proteinen und Calcium sind die zwei weiteren ernährungsphysiologischen Trümpfe des Kohls. Beim Grünkohl kann der Anteil am Rohprotein in der Trockenmasse sogar über 30 Prozent liegen. Calcium ist sortenabhängig in Konzentrationen von 20 bis bis 50 mg/100 g vorhanden (Vollmilch: ca. 120 mg/100 g). Der Magnesiumgehalt ist mit Werten bis zu 25 mg/100 g ebenfalls relativ hoch. Beide Mineralstoffe sind für das menschliche Nervensystem von großer Bedeutung.
Unter Berücksichtigung der oben genannten Nährwerte dürfte es einen wohl kaum verwundern, dass der Kohl noch bis in das 20. Jahrhundert hinein oft als „Arzt der Armen“ bezeichnet wurde. In der jüngeren Geschichte hat er seine Bedeutung als Volksnahrungsmittel allerdings weitgehend verloren. Die Diversifizierung unseres Nahrungsangebots durch den Anbau „neuer“ Nutzpflanzen wie z. B. der Kartoffel, den Import von Zitrusfrüchten während der kalten Jahreszeit und das immense Angebot an Milch und Milchprodukten sollten uns jedoch nicht vergessen lassen, dass Kohlgerichte Generationen unserer Vorfahren zumindest einigermaßen gesund durch den Winter gebracht haben.
Am Anfang der Kulturgeschichte des Kohls steht die Wildform von Brassica oleracea, wie die Art wissenschaftlich genannt wird. Im europäisch-kleinasiatischen Raum treffen wir auf unterschiedliche Wuchsformen des Wildkohls, die alle ihren eigenen Lebensraum haben. Eine gelb blühende Form wächst zum Beispiel auf dem roten Buntsandstein Helgolands. Sie ist salztolerant und wird auch auf britischen Klippen sowie entlang der atlantischen Küste Frankreichs gefunden. Im Mittelmeergebiet kommen gleich mehrere Formen vor. Die Eingliederung dieser Pflanzen in der botanischen Systematik ist noch immer umstritten. Handelt es sich bei den Wildkohlsorten um einzelne Pflanzenarten, oder sind sie alle doch nur ökologisch unterschiedlich angepasste Sippen einer einzigen Spezies? Fest steht auf jeden Fall, dass alle Formen – inklusive unsere Zuchtsorten – über die gleiche Anzahl Chromosomen (18) verfügen und untereinander gekreuzt fruchtbare Nachkommen hervorbringen. Letzteres ist ein wesentlicher Bestandteil der klassischen Definition von Tier- und Pflanzenarten.
Der Anfang der nahrhaften Beziehung zwischen Mensch und Kohl liegt irgendwo in den Nebeln der Prähistorie. Die Vorfahren der heutigen Europäer nutzten allerlei Wildpflanzen zur Bereicherung ihres Speiseplans, und der wohlschmeckende Kohl dürfte schon früh entdeckt worden sein. Mancherorts sind die Wildsorten auch heute noch beliebt. Der schwedische Botaniker Sven Snogerup erfuhr auf einer seiner Forschungsreisen, dass die Bewohner der Ägäisinsel Samos den dort vorkommenden Wildkohl sammeln und als Salat zubereiten.
Kultivierte Kohlsorten lassen sich mit Sicherheit schon 300 Jahre vor Christus in der kulinarischen Kultur des alten Griechenlands nachweisen. Die Römer kannten bereits eine beachtliche Vielfalt an Zuchtformen und schätzten den Kohl als Mittel gegen den berüchtigten „Kater“, der sie nach ihren beliebten Orgien heimsuchte. In der so genannten Geoponika, einem byzantinischen Buch über Landwirtschaft aus dem 6. Jahrhundert, wird neben Weißkohl auch bereits eine dem heutigen Kohlrabi ähnliche Sorte erwähnt.
Nördlich der Alpen lässt sich der Anbau von Kohl erstmals im Jahr 820 nachweisen. Im damaligen Bewirtschaftungsplan des Sankt Gallener Klostergartens war für den Caulas ein eigenes Beet vorgesehen. Der berühmten Äbtissin Hildegard von Bingen war das nahrhafte Gemüse ebenfalls bekannt. In einer ihrer Schriften weist sie auf seine schwerere Verdaulichkeit hin. Letztere Eigenschaft und deren blähende Wirkung hat der Minnesänger Walther von der Vogelweide in einem derben Gedicht verewigt. Die beliebten „Kräuterbücher“ des 16. Jahrhunderts enthalten diverse – zum Teil sehr detaillierte – Abbildungen von allerlei Kohlsorten (wie z. B. Blumenkohl und Grünkohl), die uns auch heute noch auf den Märkten begegnen. Der Rosenkohl ist der jüngste „Spross“ dieser großen Gemüsefamilie. Er trat zum ersten Mal im Jahr 1785 in der Gegend um Brüssel auf und ist wahrscheinlich in Folge einer spontanen Mutation entstanden.
Für HobbygärtnerInnen stellen Kohlsorten eine interessante Bereicherung ihrer Gemüsebeete dar. Aufgrund ihres hohen Wasserbedarfs sind sie zwar nicht sehr pflegeleicht, doch dafür lassen sich die unterschiedlichen Zuchtformen den größten Teil des Jahres über ernten, sodass einem bei einer ausgeklügelten Fruchtfolge fast ständig frisches Gemüse aus eigenem Anbau zur Verfügung steht. In klimatologisch begünstigten Gebieten wie z. B. der Rheinebene können bei früher Aussaat die ersten Broccoli und Kohlrabi bereits Ende Mai erntereif sein. Im Sommer schließen sich Blumenkohl und die frühen Kopfkohl-Sorten an. Rosenkohl und Grünkohl sind winterhart und brauchen Frost, um geschmacklich zur vollen Reife zu gelangen. Letzteres wird durch die physiologische Erhöhung des Zuckergehaltes in den Pflanzenteilen als Reaktion auf Minusgrade verursacht. Beide Sorten können bis zum Steigen der Temperaturen im Frühling frisch geerntet werden.
Mit Ausnahme des Kohlrabis brauchen alle Zuchtformen große Mengen Pflanzennährstoffe, was natürlich beim Anbau berücksichtigt werden muss. Ein fruchtbarer Boden ist die Grundvoraussetzung, doch für ein gutes Wachstum ist eine zusätzliche Düngung unabdinglich. Leider tun kommerzielle Gemüsebauer hier oft zu viel des Guten, vor allem was die Gabe von Kunstdünger betrifft. Zu starke Düngung führt beim Kohl zur Bildung unangenehmer Aromen, die vor allem beim Kochen nicht gerade appetitanregend wirken.
Es ist somit nicht verwunderlich, dass „Biokohl“ aus ökologischer Landwirtschaft seinen konventionell erzeugten Artgenossen geschmacklich deutlich überlegen ist. Im eigenen Garten sollten Sie am besten ganz auf Kunstdünger verzichten und ihre Kohlbeete mit reichlich Kompost und/oder gut verrottetem Mist versorgen. Dann werden Ihre selbst gezogenen Feldfrüchte zu einem echten kulinarischen Erlebnis.
KURT F. DE SWAAF, Jahrgang 1963, lebt und arbeitet als freier Journalist in Heidelberg. Neben Zoologie und Botanik gehört vor allem auch die Gewässerbiologie zu seinen Themenschwerpunkten