■ Hollands Nudisten-Streit: Nackter als nackt
Amsterdam (taz) – Die Niederlande scheinen das freizügigste Land Europas zu sein – aber darf man wirklich alles? Ausgerechnet eine Gruppe von Nudisten sieht sich unverständigen Reaktionen ausgesetzt. Gerald van de Weerdt sah sich gezwungen, eine völlig neue Vereinigung von Nackt-Anhängern aufzubauen, denn: „Selbst die letzte Frauenzeitschrift bombardiert die Leser mit Artikeln über Sadomaso. Aber wir sind angeblich fürchterlich.“ Dabei hat sich Gerald van de Weerdt lediglich auch das Schamhaar abrasiert. Da verlor die Mehrheit der 3.000 Mitglieder zählenden Nudistenvereinigung „Sonne & Leben“ die Nerven und ekelte ihn und andere Super-Nudisten raus.
Deshalb entstand 1992 die Vereinigung „The Smoothies“ (Jahresbeitrag: 45 Gulden), in der sich mittlerweile 200 unten kahle Menschen zu kollektivem Nacktschwimmen, zu Saunabesuchen oder Silvesterparties zusammenfinden. Beim Weihnachtsfest, so recherchierte das Allgemeen Dagblad, mag allein der Weihnachtsmann „bekleidet & behaart“ erscheinen.
Trotz aller Toleranz sehen sich die Ganzkahl-Nudisten einem beinahe schäbigen Boykott ausgesetzt. Es sei außergewöhnlich schwierig, Anzeigen für Mitgliederwerbung zu schalten. Die meisten Tageszeitungen verweigerten jegliche Reklame, sogar Naturisme, das „Organ der Niederländischen Federation der Naturistenvereinigungen“ blieb hart. Am Ende erklärte sich nur das Allgemeen Dagblad „mit Mühe“ bereit, eine kleine Anzeige ins Blatt zu nehmen: „The Smoothies Club, voor de ,gladste‘ naturisten, bloter als bloot.“ Van de Weerdt empört: „Aber wir mußten in die Rubrik ,Kontaktanzeigen‘, zwischen Sexclubs und Telefonsex.“
Die niederländischen Nudisten haben laut van de Weerdt eine fast panische Angst, mit Sex in Verbindung gebracht zu werden. „Sie stürzen sich fanatisch auf Volleyball und Gymnastik, damit das harte Training sie darin hindert, in der Öffentlichkeit mit einer Erektion erwischt zu werden.“ Sie probierten immer so zu tun, als ob Sex das letzte sei, woran sie denken, animierten sich gegenseitig, sich nur in die Augen zu sehen, so van de Weerdt. Er selbst bezeichnet sich als verlegener Mensch, der deshalb seine Augen niederschlage (und ein bißchen heimlich auch woanders hinsehe). Van de Weerdt: „Wer bei ,Leben & Sonne‘ Mitglied werden will, der bekommt zunächst einen Hausbesuch von älteren Mitgliedern, die die Kandidaten begutachten, ob diese auch tadellos genug sind.“
Es gäbe bei „Sonne & Leben“ Rauch- und Trinkverbot, sogar über die Zulassung von „alkoholfreiem“ Bier sei heftig diskutiert worden. Gerald van de Weerdt hat seine Probleme mit den prüden Nackten: „Menschen, die Piercing lieben, werden ausgegrenzt.“ Er nennt „Sonne & Leben“ ein „calvinistisches Pensionat“.
Das aber immerhin nicht wenig Einfluß hat. Obwohl in Holland mittlerweile an vielen öffentlichen Orten die Kleider fallen gelassen werden dürfen, tummeln sich in 56 Nudistenvereinigungen über 56.000 Mitglieder. Eine Nudistensprecherin listig über das Piercing- Verbot: „Tatsächlich wird das meist nicht toleriert, es ist Bekleidung – und daher abzulehnen.“
Das wahre Paradies für die ganz Nackten sei die französische Nudistenkolonie Cap d'Agde, eine komplette Siedlung am Strand mit Geschäften, Cafés und anderen Einrichtungen, die man 24 Stunden lang rund um die Uhr nackt betreten könne. Piercing, Tätowierungen und völlige Kahlheit – niemand werde hier diskriminiert. Liebe sei möglich, es gäbe sogar Schönheitssalons, die auf die Erstellung von „dépilage du sexe complète“ spezialisiert seien.
Was aber ist eigentlich so toll an der völligen Kahlheit? Ehefrau Ria van de Weerdt: „Wir finden es einfach schön, wir wollen es einfach.“ Sie habe sich „unten“ all die Jahre immer ein bißchen rasiert, bis irgendwann nur noch ein Rest übrig geblieben war. Den habe sie dann konsequenterweise auch noch abgeschert. Das sei hygienisch, auch wenn man sich einmal pro Woche rasieren müsse. „Sonst kribbelt es.“ Falk Madeja
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