■ Hohe Streikbereitschaft nach IG-Metall-Urabstimmung: Kleine Lösung, große Krise
Wer ihn verliert, scheint verloren. Um was es geht? Erraten, um den bevorstehenden Arbeitskampf. Wie nicht anders erwartet, haben die niedersächsischen Metaller ihren Bezirksleiter Jürgen Peters nicht im Regen stehen lassen und mit „Bravour“ den Streik beschlossen. Damit rückt der erste Arbeitskampf in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie seit zehn Jahren immer näher. Die Stimmung ist geladen wie schon lange nicht mehr, und nicht nur das laute Kampfgeschrei belegt, daß für beide Tarifparteien diesmal weit mehr auf dem Spiel steht als das übliche Verteilungsgerangel über erzielte Produktivitätszuwächse. Die Unternehmen wollen die Krise nutzen, um ihre (Personal)kosten radikal zu reduzieren. Und die Gewerkschaften fürchten, daß das tarifpolitische Rad um Jahre zurückgedreht werden soll.
Der Tarifkonflikt hat angesichts des bevorstehenden Wahlmarathons jedoch längst die Dimension einer politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung angenommen. Die Mittelstandsgesellschaft mag den bevorstehenden Wohlstandsverzicht und die Unordnung auf dem Arbeitmarkt nicht. Die riesigen Entlassungswellen, die zunehmende Steuer- und Abgabenlast, die gekürzten Sozialleistungen – all das treibt, wie schon beim Streik im öffentlichen Dienst vor zwei Jahren und letztes Jahr in der ostdeutschen Metallindustrie, die Beschäftigten auf die Barrikaden. Und wie schief die Verteilung des volkswirtschaftlich Erwirtschafteten geraten ist, läßt sich spätestens nach den Solidarpakt-Runden, wo den Schwächsten der Gürtel kräftig enger geschnürt wurde, auch nicht mehr verbergen. Zorn und Wut der streikbereiten Werktätigen richten sich deshalb gegen die Regierung, die ihnen nicht nur einseitig die Kosten der Vereinigung aufgebürdet hat, sondern sie, wie es die gestrige Bundestagsdebatte über den Standort „D“ wieder vor Augen führte, auch noch zu Sündenböcken der Wirtschaftskrise abstempelt. Angesichts einer fehlenden Opposition in Bonn und ausbleibenden Konzepten fällt den Gewerkschaften zunehmend die Rolle einer politischen Gegenmacht zu – eine Rolle, die sie unvorbereitet trifft und inhaltlich überfordert.
Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß die Funktionäre vor Streikbeginn noch einmal die Luft rauslassen. Bereits bei dem Darmstädter Spitzengespräch wurde klar, wo die Kompromißlinien liegen könnten: So haben die Herren von Gesamtmetall sich ihrer sturen Forderung einer 15prozentigen Kostensenkung genauso entledigt wie ihres kategorischen Neins zu weiteren Arbeitszeitverkürzungen. Und die IG Metall warf ihre Tabuthemen Lohnerhöhung, tarifliche Öffnungsklauseln und ihre Blockade befristeter Arbeitszeitverlängerung über Bord. Doch selbst das ist nur die kleine Lösung der großen Krise. Als nächster Schritt bleibt den Lohnabhängigen nur noch eine Wahl: Die rote Karte für Kanzler Kohl. Erwin Single
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