■ Höge auf Usedom: Polnischer Puff gefällt mit jedem Piccolo besser
Es kostete die taz täglich 175 Mark, mich in unmittelbarer Nähe des Augenbrauenministers in Ahlbeck einzuquartieren. Dafür erfahre ich an der Kurmuschel quasi von ihm direkt: Usedom, speziell Ahlbeck, hat „große Chancen – wenn es sich weiter anstrengt“. Eine 55jährige PDS- Frau aus Eberswalde, die noch eine unrenovierte Billigpension erwischte und sich – mit 2.000 Mark Lohn im Monat – zu den „Wende-Gewinnlern“ rechnet, meint dagegen im Tanzlokal auf der Seebrücke: „Es sind schon zu viele Westler hier. Aber immer noch besser als Ausländer!“ Das scheint auch der Ahlbecker Bürgermeister so zu sehen, der die Öffnung der Grenze für Pkws zum drei Kilometer entfernten polnischen Großbadeort Swinemünde bedauert, wo – nicht nur der Preise wegen – die Jugend kurt und dazu alle „Los Incas“- Gruppen der freien Welt auf der Strandpromenade flöten. Heringsdorf und Ahlbeck sind dagegen mehr was für Senioren.
Am textilfreien Strand treffe ich viele JungjournalistInnen. Die Frauen haben sich Strandkörbe gemietet, von wo aus sie ihren Brüsten die Männer zeigen. Die Männer entfalten derweil sportives Strandleben. Das Wasser hat 22 Grad und die Luft 30,„aber die Wellen sind nur 18 Zentimeter hoch“. „Typisch Wessi – mit Weitgereistsein angeben“, kontert eine Ost-Kollegin aus Erfurt.
Ich schließe mich daraufhin beleidigt einem Kegelverein aus Münster an. Als um 23 Uhr in Ahlbeck die Lichter ausgehen, beschließen die letzten drei aufrechten Westfalen, mit mir zur Grenze zu fahren, wo uns ein Bus-Shuttle der Swinemünder Bordelle sofort in die hellerleuchtete „Vermittlungsagentur Extaza“ bringt. 14 gutaussehende Frauen sitzen dort auf Sofas. An der Theke stehen: ein rüstiger Stalingradkämpfer, jetzt Wechselwähler, der bald das Lokal verläßt; zwei polnischsprechende Ahlbecker, Bier trinkend; zwei zu den Damen schielende Immobilienmakler aus Osnabrück; drei beherzt radebrechende Hotelbauarbeiter aus dem Hunsrück.
Der Wirt-Zuhälter-Kapitalist (bei Puffprofiten von über 50 Prozent spricht die Polizei von „Ausbeutung“) ist dreisprachig und sehr aufgeschlossen. „Warum kommen die Frauen nicht her, damit man ihnen was zu trinken spendiert?“ frage ich ihn. „Die Männer sind hier meist schüchtern und sagen nicht nein, auch wenn sie lieber ihr Geld mit einer anderen ausgäben.“ Ich lade daraufhin die erstbeste Rotblonde zu einem Piccolo ein: Victoria war Verkäuferin in Leningrad, wo ihre Eltern leben. Der Vater Fliesenleger, die Mutter Ärztin. In Swinemünde wohnt sie seit kurzem mit einem Rottweiler und einem Pitbull zusammen: Duran & Duran. „My parents and dogs cost much money.“ Sie ist leidenschaftliche Autofahrerin. Wir reden über die Preise von Gebrauchtwagen. Ich behaupte, in Norddeutschland bekomme man schon welche für 1.000 Mark. Sie gibt mir daraufhin ihre Telefonnummer und ich ihr meine, schon um nicht als Schwätzer zu gelten.
In der Prostitution bewegt man sich von der Intensität zur Ordnung, während die Untreue in entgegengesetzte Richtung driftet. Wobei beide zwischen triebhafter Dummheit und begrifflicher Klarheit auf der Stelle treten. Wir reden und trinken. Der polnische Puff gefällt mir mit jedem Piccolo besser. Victoria nennt mich einen sympathischen Kollegen. „Wenn Denken bedeutet, etwas zu Geld zu machen, dann bedeutet Denken auf dem Gebiet der Leidenschaft Prostitution“, meinte dazu mein Lieblingslibidoökonom Lyotard.
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