Hochgeschwindigkeitszüge in China: Cool. Toll. Nur für Bosse
Mit neuen Bahnstrecken will China das ärmere Hinterland an die reiche Küste anschließen. Doch der "Zug der Harmonie" ist nichts für Arme.
PEKING/SHANGHAI taz | Sonntagmorgen, neun Uhr fünf: Der G111 nach Schanghai mit der Aufschrift "Zug der Harmonie" rollt pünktlich aus dem Pekinger Südbahnhof. Liu Songran zieht ihr Handy aus der Tasche. Die 19-jährige Studentin des Finanzmanagements blickt auf die LED-Anzeigentafel am Kopfende des Waggons und verschickt die erste von vielen SMS dieses Tages: Auf 306 Stundenkilometer ist das Tempo bereits geklettert - nur zehn Minuten nach der Abfahrt ist die Reisegeschwindigkeit erreicht. "Cool", schreibt Liu.
Knapp fünfeinhalb Stunden wird der Zug für die 1.318 Kilometer brauchen - mit fünf Zwischenstopps, alle an nagelneuen Bahnhöfen. Drei Tage nach der offiziellen Eröffnung der Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Peking und Schanghai ist der Zweite-Klasse-Waggon Nr. 12 mit seinen blauen Stoffsitzen fast bis auf den letzten Platz gefüllt.
Eisenbahnminister in Haft
Einigkeit: "Zug der Harmonie" steht auf den neuen Hochgeschwindigkeitszügen, "CRH 308 A" oder "CRH 308 B" nennen Chinas Ingenieure ihre Modelle, die sie unter anderem auf der Basis von Kawasaki- und Siemens-Technologie entwickelt haben. Ehrgeiz: Ihre Kollegen aus aller Welt beobachten China gespannt, denn kein anderes Land hat bislang so ehrgeizig geplant. Wichtigste Frage: Wie sicher sind die neuen Züge? Wie lange können die Materialien, der Beton und der Stahl, diese Belastung aushalten, ohne sich zu verbiegen oder abzusinken? Nirgendwo sonst zum Beispiel müssen die Schienentrassen so viele Züge hintereinander verkraften, die so schnell über so große Distanzen fahren. Zwischen Peking und Schanghai etwa sollen künftig bis zu 90 Zugpaare täglich eingesetzt werden, die meisten davon werden über 300 Stundenkilometer schnell sein. Empfindsamkeit: Wie die Hochgeschwindigkeitsstrecken in Deutschland und zwischen Paris und London sind auch die Systeme in China hochempfindlich, wie sich schnell herausgestellt hat: In den ersten Tagen kam es mehrfach zu technischen Pannen, weil die Stromversorgung plötzlich ausfiel.
Es ist ein gemischtes Publikum: Geschäftsreisende, Familien mit Kleinkind und Großeltern, Studenten auf dem Weg in die Semesterferien. Auf den Fernsehmonitoren über dem Gang flimmert ein amerikanischer Kung-Fu-Film, draußen zieht das Pekinger Umland mit Hochhaussiedlungen, Industrieparks und Gewächshausfarmen vorbei.
Der Hochgeschwindigkeitszug nach Schanghai gehört zu den großen Bauprojekten, die China in die moderne Zeit katapultieren und das ärmere Hinterland enger mit dem industrialisierten Küstenregionen verbinden sollen - neben dutzenden neuer Flughäfen und einem gewaltigen Netz ebenso neuer Autobahnen.
Im April 2008 hatten die Eisenbahner mit dem Bau der neuen Trasse begonnen. Über 100.000 Arbeiter verlegten Gleise, zogen Kabel, bauten Zäune. Nun braust der Zug ruhig - mal auf Betonstelzen, mal auf aufgeschütteten Trassen - durch vier Provinzen Richtung Süden.
Die Premiere der Peking-Schanghai-Route pünktlich zum 90. Geburtstag der Kommunistischen Partei am 1. Juli war in Peking als Symbol wirtschaftlicher Stärke und Zukunftsdenkens gefeiert worden - und hat in der Öffentlichkeit zugleich ungewohnt scharfe Debatten über die hohen Baukosten von rund 23,7 Milliarden Euro und das intransparente Geschäftsgebaren der Behörden ausgelöst.
Denn der in China als Vater der Hochgeschwindigkeitsbahn bekannte frühere Eisenbahnminister Liu Zhijun sitzt seit Februar wegen Korruption in U-Haft. Er hatte sich vehement dafür eingesetzt, in seiner Heimat ein besonders schnelles Bahnnetz zu entwickeln, das sich hinter den japanischen, französischen oder deutschen Vorbildern nicht zu verstecken braucht. Die Technik lieferten Firmen wie Siemens, Kawasaki, Alstom und Bombardier. Chinesische Eisenbahnbauer, unter anderem in der Stadt Tangshan, entwickelten die Züge weiter.
Klimaanlagen funktionieren ohne Probleme
Spätestens seit dem Sturz Lius kursieren im Internet und in den Zeitungen nicht nur Gerüchte über die zahlreichen Geliebten des Exministers, sondern auch über Bestechungsgelder in Millionenhöhe, die er eingesteckt haben soll. Aufträge für rund 530 Millionen Euro seien ohne ordentliche Ausschreibung vergeben worden, heißt es. Der Bau zweier Strecken wurde zeitweilig gestoppt, weil es die Bahn versäumt hatte, Umweltauflagen zu beachten. Dennoch hält die Regierung an dem großen Ziel fest: Bis 2020 soll sich das Schienennetz Chinas von derzeit über 90.000 Kilometer auf 120.000 Kilometer vergrößern, die Hochgeschwindigkeitsstrecken von bislang knapp 10.000 auf 17.000 Kilometer.
Von der Hitze draußen ist im Waggon nichts zu spüren. 34 Grad Celsius zeigt die LED-Tafel über der Tür an, aber die Klimaanlage funktioniert reibungslos. Adrette Schaffnerinnen in weiß-blauer Uniform und Käppi auf der Duttfrisur prüfen, ob die Gepäckstücke richtig verstaut sind. Putzfrauen in bordeauxroten Hosenanzügen schieben ihre Feudel über den Waggonboden. Im kleinen Speisewagen gibt es in Plastikformen versiegelte und per Mikrowelle erhitzte Hühnerbeine mit Gemüse und Reis für umgerechnet 2,60 Euro.
An der Spitze des Zugs kämpft derweil ein junger Eisenbahningenieur mit seiner Konzentration. Er muss den Lokführer und die Fahreigenschaften des Zugs beobachten. "Alles funktioniert automatisch", sagt er und weist auf den Zugführer, der unbeweglich auf die schnurgerade Trasse vor sich starrt, umgeben von Computerbildschirmen. "Das ist so öde!", sagt der Ingenieur. Nach vier Stunden werde der Lokführer abgewechselt, "länger schafft man es nicht, aufmerksam zu bleiben".
Schön rot. Wie im Flugzeug
Als Eisenbahnminister Liu noch im Amt war, hatte er seinen Landsleuten versprochen, die neue Bahn werde rund 350 Kilometer in der Stunde schnell sein. Doch die von Siemens und den anderen internationalen Firmen gelieferte Technik ist nur auf 300 Stundenkilometer Dauergeschwindigkeit ausgelegt. "Schneller wäre Leichtsinn", sagt der Ingenieur. Die Testfahrt im Januar, als der Zug einmal auf eine Geschwindigkeit von 486 Stundenkilometern hochgejagt worden war, hat er noch in Erinnerung, und die ist nicht gut: "Das war sehr, sehr unsicher."
Während der Zug durch die Berglandschaft der Provinz Shandong rollt, wirbt die Schaffnerin im VIP-Abteil für ihre schönen roten Ledersitzplätze, die sich wie die Sessel in der ersten Klasse eines Flugzeugs zu flachen Betten ausziehen lassen. "Hier ist alles sehr bequem!" Jeder VIP-Passagier hat seinen eigenen Monitor und viel Platz. Die Schaffnerin hat Zeit zum Plaudern, denn ihr Waggon ist völlig leer.
Auch die Abteile der ersten Klasse sind kaum belegt. Dies ist kein Wunder: Eine Karte der VIP-Klasse kostet knapp 190 Euro, eine der ersten Klasse mit breiten, roten Stoffsitzen rund 100 Euro. So viel muss man auch für den Flug von Peking nach Schanghai in der Economy-Klasse bezahlen.
Gerade noch erschwinglich ist das Ticket der zweiten Klasse, jedenfalls für die Studentin Liu: Die 550 Yuan (knapp 60 Euro) hat ihr Vater spendiert, zur Belohnung dafür, dass sie ihre sechs Prüfungen zum Ende des Studienjahrs bestanden hat.
Viele allerdings können sich das nicht leisten. "Hochgeschwindigkeit? Zu teuer", sagt der 45-jährige Wanderarbeiter Yang, der sich am Pekinger Hauptbahnhof ein Ticket der "Hartsitzklasse" für nur 17 Euro nach Schanghai kauft. Die Fahrt dauert 20 Stunden. "Für uns einfaches Volk ist das nichts", sagt auch sein Nachbar in der Schlange vor dem Schalter, der für sein Bett in der Hartliegeklasse 33 Euro zahlt. "Hochgeschwindigkeitszüge sind für die Bosse."
Die hohen Preise sind mittlerweile zum Politikum geworden, das Eisenbahnministerium hat Einsicht gezeigt. Von den 90 Zugpaaren, die künftig auf der neuen Strecke zwischen Schanghai und Peking verkehren, werden 27 um etwa ein Fünftel billiger werden. Im Internet geht die Debatte dennoch weiter. Viele Teilnehmer empören sich über die hohen Investitionen für Bahnhöfe und "Harmonie-Züge", während sich die Wanderarbeiter und weniger Begüterten in überfüllte D-Züge quetschen müssen.
Die Superschaffnerin
Die Behörden setzen mittlerweile eine PR-Kampagne gegen die Kritik - mit der "selbstlosen" Schaffnerin Zhang Runqiu. Auf Plakatwänden wirbt sie als "warmherziges" Parteimitglied und Modellarbeiterin um Kundschaft. Jeder Passagier könne sich mit seinen Sorgen an sie wenden, verspricht sie. Ihren Blog blog.sina.com.cn/runqiudeboke hat die Superschaffnerin seit der Eröffnung der Peking-Schanghai-Trasse allerdings nicht mehr aktualisiert.
Die Studentin Liu ist nach ihrer ersten Reise überzeugt, dass sie auch künftig mit dem "Zug der Harmonie" fahren wird. "Es ging viel schneller, als ich dachte", sagt sie. "Tolle Sache."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch