Historische Orte: Vier mal Achtundsechzig
Im kommenden Jahr wird die Geschichte der 68er mal wieder neu erzählt. Viele Orte im Westteil der Stadt sind untrennbar mit dieser Episode des Aufbruchs verbunden. Ein paar davon haben wir noch einmal aufgesucht.
Einer ist noch da. Einer von denen, die hier Ende der 60er von Revolution sprachen und vom Sozialismus. Hagen Krieger sitzt in der "Dicken Wirtin" am Savignyplatz. "Hier saßen Baader, Ensslin und Horst Mahler", sagt er mit rauchiger Stimme und zeigt auf einen Tisch. Krieger weiß das noch sehr genau.
Von 1966 bis 1968 arbeitete der Mann mit dem grauen Dreitagebart nämlich hinter der Theke. Damals, als die "Dicke Wirtin" ein Treffpunkt der HDK-Studenten war. "Von Horst Mahler bekam ich damals 'sozialistische Schulungen'", sagt Krieger. Sein Tresennachbar lacht: Der heutige Neonazi als Lehrer des Sozialismus. Wie lange ist das her.
In der Kneipe ist die Zeit stehen geblieben: Theke, Stühle, Holzdecke sind dunkelbraun, Rauch hängt in der Luft wie ein Vorhang. Im Hintergrund ein Lied von Roxette: "Im spending my time, watching the days go by". Krieger und die anderen Stammgäste sind über 60, und sie sind nicht viele.
"Studenten kommen schon lange nicht mehr", sagt Michal Woltman. Der Mann mit dem polnischen Akzent muss es wissen. Seit zwanzig Jahren steht er hinter der Theke. Die letzte große Zeit der "Dicken Wirtin" hat er noch erlebt. Das war vor der Wende, als Touristen mit Bussen vor die Holztür gefahren wurden.
Schon Ende 1968 zogen die Studenten fort, sagt Krieger. Zum "Schotten" in die Schlüterstraße zum Beispiel. Warum? "Weil der Laden in Mode kam. Schily war auch immer da."
MATTHIAS LOHRE
Die Frau vom Grill schaut erstaunt. Ob sie jemand mal nach der Plakette für Rudi Dutschke gefragt habe? Oder nach dem Büro des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds? "Nein, davon wollte noch nie jemand wissen." Dabei steht ihr Stand direkt vor dem einstigen SDS-Sitz, Kudamm 140. Und nur zehn Meter neben der Metallplakette im Gehweg, die an die Schüsse vor knapp 40 Jahren erinnert.
Die Inschrift erinnert an den Mordversuch des Hilfsarbeiters Josef Bachmann am 11. April 1968: "An den Spätfolgen der Schussverletzung starb Dutschke 1979. Die Studentenbewegung verlor eine ihrer herausragendsten Persönlichkeiten."
Was genau geschah, erzählen diese Sätze nicht. Dutschke hatte gerade das Büro des SDS verlassen und wollte auf sein Rad steigen, als ein junger Mann auf ihn zutrat. Wenig später hallten Schüsse über den Kudamm. Dutschke lag blutend am Boden, mit Kugeln in Hals, Brust und Gehirn. Im Krankenhaus entfernten die Ärzte zwei Geschosse, die im Hals blieb vorerst drin. Der 28-Jährige, der Freunden wie Feinden weit mehr war als ein politischer Beirat des SDS, musste erst wieder sprechen lernen.
Das Büro gibt es schon lange nicht mehr. Heute steht hier ein grauer Betonklotz, im Erdgeschoss ist ein Supermarkt. Im Nachbarhaus ist eine Polizeiwache, neben der Plakette hält der Metrobus.
Ganz richtig findet es die Dame vom Grill übrigens nicht, wie mit dem Ort des Attentats umgegangen wird. Immerhin sehe sie manchmal Grüppchen, die sich auf Stadtführungen den Tatort zeigen lassen. "Aber ich finde es schon doof, wenn Leute direkt auf der Gedenktafel ihr Motorrad abstellen. Das macht man ja eigentlich nicht."
MATTHIAS LOHRE
Wielandstraße
Von seiner Hinterhauswohnung im vierten Stock hat Ralf Stephan den perfekten Überblick. Durchs Küchenfenster schaut der 65-Jährige auf die Wohnungen im Vorderhaus. Seit 30 Jahren wohnt er hier, Wielandstraße 13, in Kudamm-Nähe. "Dort drüben in der ersten Etage, das ist die Wohnung", sagt der Mann mit den grauen, nach hinten gekämmten Haaren. Dort drüben befand sich die "Wielandkommune".
Rund 20 Personen lebten 1968 hier, auch Georg von Rauch und Michael "Bommi" Baumann. In Anlehnung an die Tupamaros aus Uruguay nannten sie sich "Stadtguerilleros". Rauch wurde 1971 bei einem Feuergefecht von einem Polizisten erschossen. Wie die Kommune I am Stuttgarter Platz praktizierte die Wielandkommune einen antibürgerlichen Lebensstil. Mit Drogen und sexuellen Experimenten.
Hauptmieter war der Rechtsanwalt Otto Schily. Laut Stephan gehört ihm die Wohnung heute noch. Für ihn ist Schily ein "Drecksack", ein "elendiger Karrierist. Gut, dass der jetzt nicht mehr in der Politik ist." Schilys spätere Frau habe mal bei ihm zur Untermiete gewohnt.
Zur Bewegung hatte Stephan selbst keinen Bezug. "Immer die Frauen zu wechseln war nicht mein Ding." In den Räumen der damaligen Kommune arbeitet heute eine Gestaltpsychologin.
TOBIAS GOLTZ
Tegeler Weg
"Fuck BGS, Kripo und Hurensöhne" hat jemand auf ein Stromhäuschen gegenüber dem Landgericht am Tegeler Weg gesprüht. Dass das Graffiti mit der "Schlacht am Tegeler Weg" von 1968 zu tun hat, darf bezweifelt werden, dafür ist die Farbe zu frisch. "Hier sind immer wieder Leute sauer auf Polizei und Justiz", sagt ein Anwohner, der seit über 50 Jahren in der Gegend wohnt. Brutale Straßenschlachten wie im November 1968 habe es seitdem aber nicht mehr gegeben. Heute sei die Gegend "ein eher verschlafener Kiez".
An jenem 4. November hatte die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, dem späteren RAF-Mitglied und heutigem Rechtsextremisten Horst Mahler Berufsverbot zu erteilen. Denn Mahler hatte nach dem Attentat auf Dutschke im April gegen Springer demonstriert. Am darauffolgenden Tag beschuldigte Bild den jungen Anwalt, die Demo angeführt zu haben. Das Landgericht lehnte den Antrag zwar ab, trotzdem versuchten mehr als 1.000 Demonstranten vors Landgericht zu ziehen. Mit bis dahin unbekannter Militanz gingen die Aktivisten gegen die Einsatzkräfte vor. Mit Folgen auf beiden Seiten: Die Einsatzkräfte, die damals noch die Tschakos der Kaiserzeit trugen, bekamen Helme verpasst. Und beim SDS entbrannte eine Debatte um Gewalt und Militanz, die zur Spaltung des Stundenverbands führte.
Auf der anderen Straßenseite fließt noch immer die Spree. Ein Ausflugsschiff hat angelegt. "Schlacht am Tegeler Weg? Nie gehört", sagt der Bootsmann. Dabei heißt sein Schiff "Kreuz AS & Nostalgie".
FELIX LEE
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