Historikerin zum Ukraine-Krieg: Koloniale Denkmuster

Die Historikerin Franziska Davies plädiert für mehr Empathie mit der Ukraine. Im Interview erklärt sie: Waffenlieferungen und Verhandlungen schließen sich nicht aus.

Kyjiw, April 2022: nicht nur ein Denkmal der russisch-ukrainischen Freundschaft wird zerstört Foto: M. Marusenko/NurPhoto/picture alliance

taz lab, 27.01.2023 | Von ANASTASIA TIKHOMIROVA

taz lab: Frau Davies, Sie haben auf Twitter geschrieben, dass der britische Teil Ihrer Familie die Diskussionen über Panzer- und Waffenlieferungen nicht kennt. Was ist anders hierzulande?

Franziska Davies: Das hängt mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zusammen. Die Erfahrung, Widerstand gegen einen externen auswärtigen Aggressor leisten zu müssen, fehlt. Viele Länder, die aktuell eindeutig in ihrer Unterstützung der Ukraine sind, wie Polen und die baltischen Staaten, haben Erfahrung mit dem sowjetischen beziehungsweise russischen Imperialismus gemacht und verstehen die Motivation der Ukrainer gut. Auch Großbritannien hat im 20. Jahrhundert erfolgreich gegen einen auswärtigen Aggressor gekämpft. In Deutschland scheint die Empathie dafür geringer ausgeprägt zu sein. Viele Deutsche, die aus dem Zweiten Weltkrieg die Schlussfolgerung „Nie wieder Krieg" gezogen haben, tun sich schwer zu verstehen, dass manchmal Verhandlungen nicht möglich sind und ein „Nie wieder" auch bedeuten kann, militärischen Widerstand zu leisten.

Franziska Davies, Jahrgang 1984, ist Osteuropa-Historikerin an der LMU München. Auf dem taz lab spricht sie mit uns zum Ukraine-Krieg über koloniale Denkmuster.

Foto: Wimmer Fotografie

Deutschland porträtiert sich gern als Erinnerungsweltmeister. Wieso fehlt die Ukraine in der kollektiven Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg?

Das hängt stark mit der Russifizierung der multiethnischen Sowjetunion zusammen. Der Angriff auf diese figuriert in unserer Erinnerung immer noch als „Russlandfeldzug", obwohl der deutsche Vernichtungskrieg in erheblichem Maße auf belarussischem und ukrainischem Boden stattfand. Aber noch immer liest man, dass deutsche Panzer aufgrund des Zweiten Weltkriegs nicht gegen Russland eingesetzt werden dürfen.

Außerdem wirkt die Tradition fort, dass es deutsch-russische Verständigung auf Kosten Ostmitteleuropas geben sollte. Das ist absolut fatal, weil der grausame Höhepunkt eines deutsch-russischen Imperialismus auf Kosten Ostmitteleuropas der Hitler-Stalin-Pakt war. Die Russifizierung des Ostens geht bis ins 19., sogar 18. Jahrhundert, zurück durch die Expansion des russischen Zarenreiches, das eigentlich ein multiethnisches Reich war. Jedoch waren die russische Kultur und Sprache dominierend und gleichzeitig wurde die ukrainische Nationalbewegung vom russländischen, zarischen Staat unterdrückt, sodass auch die Kultur und Literatur der Ukraine bei uns bei weitem nicht so präsent ist, wie die russische Literatur oder Musik.

Gibt es in Deutschland fast eine Überidentifikation mit Russland auch aufgrund der eigenen, nicht richtig aufgearbeiteten Vergangenheit?

Ich glaube schon, dass es noch Nachwirkungen eines deutschen Imperialismus und Kolonialismus gegenüber Ostmitteleuropa gibt, der nur Russland als gleichberechtigten Partner mit Anspruch auf Gestaltungsmacht und Einflusssphäre in Osteuropa ansieht. Sehr gut verstehe ich die Sehnsucht der Nachkriegsgeneration auf eine Versöhnung mit Russland - das wünsche ich mir auch, aber das hätte nicht dazu führen dürfen, dass viele in Politik und Medien nicht erkennen wollten, dass sich Russland unter Putin zu einer gefährlichen neo-imperialen Diktatur entwickelt hat. Außerdem ist es fatal, wenn die vermeintliche Versöhnung auf Kosten der Ukraine geht, die ja immerhin ein Hauptschauplatz des deutschen Vernichtungskriegs und des Holocaust war. Was ist mit unserer Verantwortung gegenüber der Ukraine?

Wenn man sich die Debatte um die Ukraine seit 2014 anschaut, waren koloniale Denkmuster stets präsent: dass die Ukraine eine Variante Russlands sei oder Russlands Aggression mit angeblichen Sicherheitsinteressen, die in Wirklichkeit neoimperiale Ansprüche sind, gerechtfertigt wurde. Das Resultat ist, dass über die Ukraine gesprochen wird, als sei sie ein Objekt der Großmachtpolitik. Doch die ukrainische Gesellschaft ist ein eigenständiger Akteur. Es gibt diese Vorstellung, dass „wir" die Ukraine ins westliche Lager gezogen und damit Russland provoziert hätten. Wobei vor allem die ukrainische Gesellschaft selbst für mehr Selbstbestimmung eingetreten ist.

Putin akzeptiert die Ukraine nicht als unabhängigen Staat, sondern nur als Teil Russlands. Gerade für ukrainische Ohren muss es unerträglich sein, aus Deutschland immer wieder diese Forderungen nach Verhandlungen zu hören, wenn nie ausgesprochen wird, worüber die Ukraine denn verhandeln soll, wenn es diese Vernichtungsabsicht nach wie vor gibt. Entweder leisten die Ukrainer Widerstand oder sie geben ihren unabhängigen Staat, ihre Nation auf.

Es ist bezeichnend, dass keiner derjenigen, die Verhandlungen fordern, diese Frage wirklich beantwortet hat. Ein weiteres Missverständnis der deutschen Debatte: die Vorstellung, dass Waffenlieferungen und Verhandlungen sich ausschließen. Die Waffenlieferungen sollen ja überhaupt dazu führen, die Ukraine so weit militärisch zu stärken, dass Putin irgendwann verhandeln muss.

Gleichzeitig haben wir Anzeichen dafür, dass prorussische Narrative in Deutschland zunehmend populärer werden. Woran liegt das?

Sie sind in den Medien relativ stark vertreten, weil die Vorstellung herrscht, es müsse wirklich jeder Standpunkt für eine zielführende Debattenkultur berücksichtigt werden. Dann kommt es manchmal zu Situationen, wo Behauptungen als Meinungen hingestellt werden, die auf Falschannahmen oder Falschaussagen beruhen. Solche Narrative sind stark verankert, schon seit der Annexion der Krim. Daraus entsteht false balance. Dann gibt es sicherlich eine gewisse Müdigkeit von diesem Krieg. Am Anfang war das Entsetzen groß, dass die Gesellschaft abstumpft und nicht mehr so viel davon hören möchte. Und natürlich prägen teilweise Personen sehr stark die öffentliche Debatte, die ganz offensichtlich weder Russland noch die Ukraine wirklich kennen.

Ist auch Bundeskanzler Scholz diesem false balancing anheimgefallen? Oder wie kann man sich das „Scholzing", also sein Zögern, erklären?

Es ist schwer nachzuvollziehen, was das Kalkül dahinter ist. Um das abschließend beurteilen zu können, fehlen uns die verfügbaren Informationen und die schlechte Kommunikation der Regierung ist auch nicht wirklich hilfreich. Die Bundesregierung, aber vor allem das Bundeskanzleramt als zentraler Akteur, zögern bisher immer sehr lange, verweisen auf Eskalationsgefahren. Dabei ist es genau eine Seite, die diesen Krieg eskaliert hat. Irgendwann, wenn der internationale Druck hoch genug ist, dann wird doch geliefert, so lief es auch bei den Leoparden. Ich selbst vermute, dass ein erheblicher Teil der SPD-Fraktion die angekündigte Zeitenwende nicht wirklich will. Das legen zumindest Äußerungen mancher ihrer Mitglieder nah. Ich befürchte, dass manche immer noch nicht verstanden haben, wie das Regime Putins funktioniert und wie dieser Krieg geführt wird.

Die beste Möglichkeit, diesen Krieg schneller zu beenden, ist, die Ukraine zu unterstützen, damit sie diesen gewinnt. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich zum Beispiel meint hingegen, es gebe jenseits von Waffenlieferungen im Moment eine Verhandlungsoption, für die Diplomatie bemüht werden müsse. Aber diese gibt es nicht. Nicht solange diese offene Vernichtungsabsicht formuliert wird und versucht wird, sie in den besetzten Gebieten auszuführen. Gleichzeitig sind diplomatische Kanäle offen, zum Beispiel werden immer wieder Gefangenenaustausche ermöglicht. Ich vermute, ein Teil der SPD will lieber zu dieser alten Russlandpolitik zurück, bei der man immer wieder auf Russland zugeht, auf gute deutsch-russische Beziehungen hofft und nicht einsieht, dass das mit diesem Regime einfach nicht möglich ist. Denn Putins Russland ist im Moment der Feind.

In Deutschland haben sich zwei festgefahrene Meinungslager gebildet. Schauen Sie dennoch zuversichtlich in die Zukunft?

Ich glaube daran, dass die Ukraine siegen wird, zu einem hohen Preis. Als Historikerin denke ich natürlich auch immer in recht langfristigen Perspektiven, an das polnische Beispiel, die 1939 überfallen wurden und eigentlich erst 50 Jahre später ihre Freiheit wieder zurückerlangt haben. Ich hoffe sehr, dass es bei der Ukraine schneller gehen wird. Die Frage ist, wie viel bis dahin noch zerstört wird, wie viele Menschen traumatisiert, verletzt und getötet werden.

taz lab Eintrittskarten

Jetzt taz-lab-Tickets sichern!

Was Deutschland angeht: Ich beobachte seit Februar ein viel höheres Interesse an der Ukraine, auch ein Erschrecken über sich selber, dass man ein so wichtiges europäisches Land und dessen zivilgesellschaftlichen Drang nach mehr Demokratie, Freiheit und weniger Korruption nicht wahrgenommen hat. Zugleich gibt es noch immer die Vorstellung, dass das Leiden vorbei ist, wenn die militärischen Auseinandersetzungen vorbei sind, was falsch ist. Das haben wir in Butscha, Irpin und Isjum gesehen: Unter einem russischen Terrorregime geht das Sterben weiter. Von daher würde ich mir für die Zukunft eine viel größere Empathie gegenüber den Opfern des Krieges in der Ukraine wünschen.