Historiker über deutsche Gegenwart: „Von Vergangenheit überschwemmt“
Wie wir wurden, was wir sind: Dieser Frage geht Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Buch „Nach 1945 - Latenz als Ursprung der Gegenwart“ nach.
taz: In Ihrem neuen Buch über die Nachkriegsgeschichte legen Sie den eigentlichen Anfang in die 50er Jahre und charakterisieren diese Zeit als „Auftauchen der Stimmung von Latenz“. Was meinen Sie damit?
Hans Ulrich Gumbrecht: Wenn man sagt Latenz, dann bedeutet das ja, dass etwas, dessen Präsenz man spürt, nicht greifbar ist. Ich denke, wenn man die Literatur dieser Zeit liest, dann zeichnet sich in den 50er Jahren nach den ersten Reaktionen auf den Krieg plötzlich ein Eindruck von dieser Verhaltenheit ab; also das Gefühl, dass bestimmte intensive Gefühle, bestimmte intensive Ereignisse präsent sind, aber unter einer ruhigen Oberfläche verhalten bleiben.
Vor allem wenn man denkt, dass man in dem Alltag jenes Landes aufwuchs, das den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und verloren hatte und das nach meiner Meinung das größte Verbrechen der Geschichte, die Schoah, den Holocaust begangen hatte.
Ihr Anspruch war es, die Geschichte einer ganzen Generation darzustellen und zu zeigen, „wie wir wurden, was wir sind“. In einem langen letzten Kapitel schildern Sie eine Nachkriegsgeneration, die von der Vergangenheit nie loskommt, sondern sich zwischen Stagnation und der Hoffnung auf eine andere Zukunft im Kreis dreht.
Ich glaube, sozusagen die Prämisse meiner Generation war immer, man muss die Vergangenheit ganz transparent machen, man muss die Verantwortlichen dieser Vergangenheit, also unsere Elterngeneration, konfrontieren. Dann ist ein Horizont der Zukunft frei, dann kann man die Zukunft gestalten. Und das hat man in meiner Generation immer wieder versucht, vor allem 1968. Aber diese sogenannte Studentenrevolution ist ja eigentlich gescheitert; also es hat sich nichts verändert an der Vergangenheitsbewältigung. Im Gegenteil, vielleicht ist die deutsche Vergangenheit seitdem noch schwerer geworden.
Dasselbe Projekt ist dann im „deutschen Herbst“ von Extremisten, die schon, weil sie bei diesem Programm geblieben waren, in das Abseits der Gesellschaft gedrängt worden waren, noch einmal wiederholt worden. Man hat, denke ich, noch einmal 89 gedacht, dass man nicht nur die westdeutsche Vergangenheit, sondern auch die kommunistische Vergangenheit konfrontieren konnte, aber es hat sich nie diese Befreiung der Zukunft eingestellt.
Der Autor: 1948 in Würzburg geboren, studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie. Er lehrte in Konstanz, Bochum und Siegen. 1989 wurde der Literaturhistoriker an die Universität Stanford in Kalifornien berufen, auf den Lehrstuhl für Komparatistik. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte sind von ihm mehrere Bücher erschienen.
Das Buch: Hans Ulrich Gumbrecht, "Nach 1945, Latenz als Ursprung der Gegenwart", Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 360 Seiten, 24,95 Euro
Ihre Darstellung der politischen Entwicklung der deutschen Nachkriegs- und Latenzgeschichte mündet in den 11. September 2001. Sie schreiben: „Es war, als ob die Terroristen des deutschen Herbstes … mit tödlicherem Wahnsinn … im frühen 21. Jahrhundert angekommen wären.“ Wie kommen Sie auf diese ungeheuerliche These?
Das ist meine Reaktion auf 9/11 gewesen. Wir haben ja immer gedacht, wenn man die Vergangenheit bewältigt, dann wird man sich damit von der Last der Vergangenheit befreien. Und ich glaube, es gibt kein anderes Land vielleicht in der Weltgeschichte, das so intensiv und aufrichtig versucht hat, diese negative Vergangenheit zu bewältigen.
Dennoch war auch für mich 9/11 sozusagen das Erlebnis, zu sehen, dass man sich nicht befreien kann von dem akkumulierten Antisemitismus der Geschichte, der sich ja nicht nur in Deutschland akkumuliert hatte, sondern über 2000 Jahre akkumuliert hatte, und dass man sich nicht befreien kann von dem akkumulierten Antiamerikanismus, dem akkumulierten Ressentiment nach dem Zweiten Weltkrieg, dem akkumulierten Ressentiment der Dekolonialisierung und so weiter.
Sondern dass dessen Intensität und die Intensität dieser negativen Vergangenheit gewachsen ist und dass sie dann letztlich zum ersten Mal in der Geschichte in einer zerstörerischen Weise im Jahr 2001 die USA erreichte. Also habe ich 9/11 interpretiert als eine Intensivierung der Negativität der Vergangenheit. Und für mich war das das Ende der Illusion, dass man sich durch Reflexion von der Vergangenheit und den negativen Tönen und Beschwerungen durch sie befreien könnte.
Gegen den Trend zur Versöhnung und zur Verharmlosung mit der Nachkriegsgeschichte beharren Sie darauf, dass die Bürde bleibt: „eine Vergangenheit zu erben, von der man ausgeschlossen werden will, aber nicht kann“.
Ich glaube, so sind wir aufgewachsen. Ich habe natürlich als Professor an einer amerikanischen Universität sehr viele Freunde und jüdische Kollegen, und die nehmen manchmal mich auf die Rolle, wie ernst mir die deutsche Vergangenheit ist. Aber das ist doch zum Teil ein Entschluss gewesen, vielleicht ein Entschluss in dem Sinn, etwas Unvermeidliches zu akzeptieren. Die Generation der Täter hat sich sicher nicht mit dieser Vergangenheit konfrontiert.
Auf der andern Seite hat meine Generation auch nicht mehr die Illusion, dass eine Konfrontation mit dieser Vergangenheit uns befreien wird. Aber ich denke, es steht meiner Generation von Leuten, die in Deutschland geboren sind, gut an, soweit das geht, Verantwortung für etwas zu übernehmen, für das wir subjektiv nicht schuldig sind.
Es gibt aber noch einen zweiten Leitgedanken des Buches: die Zeit, das heißt die Zeitvorstellung, die unser Handeln bestimmt. Bis in die 80er Jahre waren das die „großen Erzählungen“ vom menschlichen Fortschritt. Heute aber, so stellen Sie fest, leben wir in einer ganz anderen Zeit. Was bedeutet das für unsere Zukunftsorientierung?
Sowohl der Sozialismus als auch in anderer Weise der Kapitalismus gingen davon aus, dass die Zukunft etwas ist, was man gestalten kann und was zu gestalten man die Freiheit hat. Ich glaube, dass dieser Diskurs, in dem wir uns immer noch über Vergangenheit und Zukunft unterhalten, überhaupt nicht mehr unserer alltäglichen Erfahrung von Zeitlichkeit entspricht. Denn ich glaube, in unseren alltäglichen Ängsten, auch in unseren alltäglichen Träumen, aber auch in unserem alltäglichen Verhalten gehen wir eigentlich nicht mehr davon aus, dass zumindest in großen Zügen diese Zukunft gestaltbar ist.
Sondern wir gehen davon aus, dass die Zukunft besetzt ist mit einer Reihe von konvergierenden Bedrohungen, die auf uns zukommen. Also zum Beispiel eine Bedrohung wie die demografische Entwicklung, eine Bedrohung wie die Begrenztheit der Ressourcen, eine Bedrohung durch den Klimawandels und so weiter. Da haben wir gar keine Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft, sondern wir haben Überlebensprobleme.
Und wie gehen wir heute mit der Vergangenheit um?
Ich glaube ich, dass wir Vergangenheit gar nicht mehr hinter uns lassen, sondern dass wir von Vergangenheit eigentlich überschwemmt sind. Wir leben in einer Kultur der Gedenktage, jeder Tag ist ein Gedenktag, wenn Sie auf die FAZ.net-Webseite gehen, da können Sie sich jeden Tag ein kleines Filmchen für jeden Tag in der Geschichte vorspielen. Wir kommen aus der Vergangenheit nicht mehr heraus.
Und das trifft nicht nur auf Deutschland zu, das trifft auch in ganz ähnlicher Weise auf die USA zu. Das ist zum Teil die von mir nicht geteilte Enttäuschung über Obama zum Beispiel, der in seinem ersten Wahlkampfjahr ja die Möglichkeit der Gestaltung der Zukunft – „Yes, we can“ – sehr stark evoziert und provoziert hat und dann in den ersten 4 Jahren seiner Legislaturperiode jemand war, der Politik sozusagen im Sinn von maximaler Schadensbegrenzung betrieben hat. Und vielleicht geht das auch gar nicht anders.
Die Erfahrung der blockierten Zukunft enthüllen Sie schließlich als latente Transformation der alten Zeitordnung zu einer neuen, in der wir jetzt leben.
Die These des Buches heißt ja letztlich, dass diese Erwartung, dass eine Durcharbeitung der Vergangenheit einen befreit für die Gestaltung der Zukunft, dass das die Erwartung eines alten Chronotopen, einer Konstruktion von Zeitlichkeit war, die gar nicht mehr unsere ist. Und dass wir möglicherweise schon seit der Mitte des Jahrhunderts unter anderen chronotopischen Bedingungen gelebt haben. So dass wir beständig versucht haben wie so eine Pawlow’sche Ratte im Käfig, uns in einer Weise zu befreien, die als Befreiungsethos, als Befreiungsmöglichkeit gar nicht mehr gegeben war. Also wenn Sie wollen, eine verlorene Generation.
Sie sind Professor für Komparatistik an der Stanford University, Ihr Buch besteht zu großen Teilen aus literarischen Textbespielen zur Nachkriegsgeschichte. Weshalb ist Literatur und vor allem „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett für diese Geschichte so wichtig?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass literarische Texte eine Qualität haben, die nur selten erwähnt wird, nämlich die historischen Situationen, historische Stimmungen sehr intensiv zu absorbieren, um sie dann wieder abstrahlen zu können. In dem Sinn ist dieses neue Buch „Nach 1945“ zwar kein literaturwissenschaftliches Buch und schon gar nicht Literaturgeschichte, aber es ist ein Buch, was Literatur voraussetzt und mit dieser Möglichkeit arbeitet. Und dieser Text von Beckett hat für mich all die Motive absorbiert, die für mich entscheidend in der Darstellung dieser unmittelbaren Nachkriegszeit sind.
Emblematisch sind die letzten Wörter in „Godot“, als die beiden Protagonisten sagen „Zieh dir die Hose hoch“ und „wir gehen jetzt“. Beckett sagt: „Sie laufen, aber legen keinen Weg zurück“; „they walk, but do not advance.“ Und das scheint mir die kompakteste denkbare Zusammenfassung der Nachkriegsgeschichte zu sein. Aber dann auch das Warten auf Godot, das beständige Warten, das Offensein für die Ankunft von etwas, was sich im Leben meiner Generation nie eingestellt hat. Sie haben völlig recht, der zentrale Bezugstext für mich im historischen Sinn ist Becketts „Warten auf Godot“.
Ihr Buch ist auch ein Bekenntnis – und eine Bekehrung? – zu den USA; schließlich sind Sie heute amerikanischer Staatsbürger. Worauf gründet sich diese Liebe zu Amerika und den Amerikanern?
Ich glaube für mich und nicht wenige in meiner Generation gibt es schon sehr früh eine vorreflexive positive Einstellung zu den Vereinigten Staaten. Und dann – das hat Jürgen Habermas mal so formuliert – bin ich sozusagen ein junges Mitglied der Generation der Reeducation. Ich denke, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal in seiner Geschichte zu einem demokratischen Land, geradezu zu einem vorbildlichen demokratischen Land geworden ist. Und das hat sehr viel mit dieser aktiven Reeducation durch die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun, auch wenn man das heute, das muss auch mal gesagt werden, in Deutschland nicht mehr sehr gerne hört.
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