Historiker Winkler klärt FDP auf: Lehrstunde für neue Bündnisse
Der Historiker Heinrich August Winkler erklärt der FDP in einer Rede den Gleichklang von Freiheit und Sozialismus.
Der Historiker war ein wenig erstaunt, als ihn die Einladung des liberalen Politikers erreichte. Ob er denn über seine SPD-Mitgliedschaft im Bilde sei, wollte Heinrich August Winkler von Wolfgang Gerhardt wissen. Für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung, deren Vorsitzender Gerhardt seit dem erzwungenen Abschied vom Fraktionsvorsitz ist, sollte Winkler die zweite "Berliner Rede für die Freiheit" halten. Das Parteibuch störe ihn nicht, entgegnete der Stiftungschef.
Damit untertrieb Gerhardt gehörig, denn eine behutsame Annäherung an die Sozialdemokraten war offenbar der Zweck der Übung. Bereits zum Jahreswechsel war der Liberale mit harscher Kritik an der zu einseitigen Ausrichtung der FDP hervorgetreten, nach den Landtagswahlen in Hessen und Hamburg musste ihm Parteichef Guido Westerwelle folgen. So wehte ein Hauch von 1969 am Mittwochabend durch den Vortragssaal am Brandenburger Tor in Berlin, dem Jahr der ersten sozialliberalen Koalition in Bonn, der Zeit auch, in der Gerhardt und Winkler ihre Berufskarrieren begannen. Frühe Erfahrungen prägen.
Winkler trat an die Stelle des konservativen Verfassungsrichters Udo Di Fabio, der die Liberalen im vorigen Jahr mit einem schwarz-gelb grundierten Vortrag beglückt hatte. Neu war auch die Räumlichkeit. Nicht mehr beim Großkonzern Dresdner Bank mietete sich die Stiftung ein, sondern bei der Genossenschaftsbank auf der anderen Seite des Pariser Platzes - die zudem mit der elliptischen Architektur des Amerikaners Frank Gehry den Aufbruch in neue Zeiten symbolisiert.
Winkler enttäuschte die Erwartungen nicht. Über "Die Deutschen und ihre Freiheit" sprach er, über die obrigkeitliche Deformation ihres politischen Denkens seit Martin Luther - aber eben auch über das Soziale, das spätestens seit Bismarcks Versicherungssystem fester Bestandteil des hiesigen Staatsverständnisses ist. Auch und vor allem bei den Liberalen, wie Winkler demonstrierte. So glaubte während des Ersten Weltkriegs Friedrich Naumann, Namensgeber der Stiftung, "dass eine wesentlich deutsche Kultur sich ausbreitet, wenn der Sozialismus heraufzieht".
Zwar sei das Streben nach sozialer Sicherheit vom NS-Staat und der DDR zur Aushebelung der Freiheit missbraucht worden, räumte Winkler ein. Dadurch werde es aber nicht illegitim. Ganz im Gegenteil müssten sich Demokratien stets aufs Neue rechtfertigen, "indem sie auch den Schwächsten die Möglichkeit geben, ihre Freiheit zu nutzen und zu erweitern".
Staatswille und Gemeinwohl seien keine vorgegebenen Größen, zitierte er den Politologen Ernst Fraenkel. Sie seien vielmehr die Resultante, "die sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte" ergebe. Ihr Ausgleich müsse "den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung" entsprechen. Pathetisch schloss Winkler, die Zukunft der Demokratie in Deutschland hänge davon ab, "ob eine breite Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger auch weiterhin bereit ist, Parlament und Regierung jenes Bemühen um einen sozialen Ausgleich zu bescheinigen".
Die versammelten Liberalen, die in den vergangenen Jahren so oft das Gegenteil verkündet hatten, applaudierten ausdauernd. Gerhardt riet ihnen, die Rede "in sich sinken zu lassen". Dafür haben sie bis zur Bundestagswahl nun anderthalb Jahre Zeit.
RALPH BOLLMANN
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