Hippe Puschen: Der Pantoffelheld von Mitte
Zu DDR-Zeiten verkauften sie Einheitspantoffeln, heute sind es Puschen mit BVG-Muster. Seit hundert Jahren gibt es das Pantoffeleck in der Torstraße in Mitte. Es ist der letzte Pantoffelbetrieb aus der ehemaligen DDR. Doch der 72-jährige Seniorchef Günter Jünemann denkt nicht daran aufzugeben.
Die gusseiserne Maschine ist das Herz aller Pantoffeln. Und das Herz macht Lärm. Wie ein Webstuhl bewegt es sich auf und ab und rattert, wenn Günter Jünemann Sohle für Sohle aus den langen Filzbahnen stanzt. Beide, der Pantoffelmacher und seine Maschine, sind 72 Jahre alt. Nur er und sein Sohn dürfen mit dem Herz noch arbeiten, an jemand anderes vergibt das Amt für Arbeitsschutz keine Erlaubnis mehr. "So macht man das Alte ja kaputt", sagt er und meint damit die Art, wie er Pantoffeln herstellt. Im Handwerk. Er hat es gelernt von seinem Vater, der hat es von seinem Vater.
Damit das Alte weiter lebt, will Günter Jünemann weiter stanzen. Bis er 100 ist - "und Rente beziehen bis 150", witzelt der drahtige Mann mit dem Arbeitskittel über der gestreiften Trainingshose. Es wär natürlich ein Wunder. Aber sein Familienbetrieb hat die 100 auch geschafft. Und dass es das Pantoffeleck in der Torstraße in Mitte, Berlins letzte Haussschuh- und Pantoffel-Manufaktur, noch gibt, ist auch ein kleines Wunder. Ein Wirtschaftswunder.
1908 war die Geburtsstunde des Jünemannschen Pantoffelbetriebs. Der Großvater hatte sich in Magdeburg selbständig gemacht. Es gab zwar auch damals schon einen Laden, aber in der Zeit sind Handwerker wie er oft hausieren gegangen.
Die Pantoffeln im Rucksack über die umliegenden Höfe, der Großvater hat sie eingetauscht gegen Lebensmittel. Dann kam der Erste Weltkrieg. Der Großvater starb, der Vater übernahm das Geschäft. 1927 ist er nach Berlin gegangen, in die Lottumstraße, nicht weit vom Alexanderplatz. Von dort ist die Familie oft umgezogen, "reihum durch Stadtmitte".
Einige Straßen, in denen die Jünemanns wohnten, gibt es heute nicht mehr, die Brendickestraße zum Beispiel, auch das Haus in der Weinstraße steht nicht mehr, im Zweiten Weltkrieg wurde es ausgebombt.
Die Maschinen aber haben die Jünemanns retten können. "Als Kind hats ja Spaß gemacht, in den Trümmern zu wühlen." Günter war eins von zwölf Kindern. Sie haben alle mit angepackt, und so haben sie alles wieder in Schuss gebracht. Der Vater ist früh gestorben, mit 47 Jahren; die Mutter hat das Geschäft übernommen. Da war schon DDR.
In der Kellerwerkstatt läuft der Radiokassettenrekorder, Musik aus den 80ern. Seit 6 Uhr steht Günter Jünemann an seiner Stanzmaschine. Er arbeite jetzt nicht mehr so lange, sagt er, nur bis 13 Uhr. Und er steht nicht mehr wie früher den ganzen Tag an einer Maschine. Später am Vormittag wechselt er an die Zwickmaschine, wo er und sein Sohn den Pantoffelschirm über einen Leisten spannen und mit der Sohle zusammenzwicken. Insgesamt sind sie zu dritt: der Vater, der Sohn, eine Angestellte.
Zu Höchstzeiten, in der DDR, hatten sie sechs Angestellte - selbst die Tante arbeitete mit. 30.000 Pantoffeln haben sie im Jahr hergestellt. Es war die Zeit der Einheitspantoffeln. "Fast nur Kamelhaar", stöhnt Günter Jünemann, wenn er daran denkt. Das ganze Jahr nur Kamelhaarpantoffeln, braungelb kariert. Der Großvater hatte schon Pantoffeln in dem Design verkauft. Aber damals war das Mode.
Über die DDR könnte er noch mehr stöhnen. Der Pantoffel war subventioniert. "Pantoffeln müssen nicht subventioniert werden", schimpft Jünemann noch heute, "und wenn, dann muss man dafür sparen." Der Staat hat den Jünemanns den von ihnen errechneten Betriebspreis gezahlt und die Ware über die Handelsorganisation HO in den Kaufhäusern billiger verkauft. Um die Subventionen zu bekommen, hatten sie alles kleinklein aufzulisten - vom eingekauften Material bis zur Anzahl der fertigen Pantoffeln. Es gab kein Gramm Filz zu viel.
Trotzdem hat Jünemann immer ein paar Pantoffeln extra machen können, die hat er dann einmal im Monat verkauft. Die Leute standen natürlich Schlange, "bis zum nächsten Eck". Bevor ein neues Modell in Serienproduktion gehen sollte, fuhr Günter Jünemann nach Leipzig, zum Amt für Warenprüfung. Damit der Pantoffel auch der Norm entsprach.
Einmal wichen die Genossen selbst von der Norm ab und ließen linke und rechte Pantoffeln produzieren. Die wollten aber die Kunden in der HO nicht. Aus der Idee der verschiedenen Latschen wurde nichts und Jünemann konnte bei seinem einen Leisten bleiben. Bis heute sind beide Pantoffeln gleich. "Im Dunkeln nachts", sagt er, "sieht man sowieso nicht, ob man den rechten oder linken anhat."
Rot, blau, grau, schwarz, kariert, sogar im BVG-Design - wo man auch hinschaut in Jünemanns Laden, nur Latschen. Schlosspantoffeln, für die man die Straßenschuhe nicht ausziehen muss, Designerlatschen für 40 Euro, Hausschuhe in allen Varianten füllen die Regale bis unter die Decke. Auch der Kamelhaarpantoffel ist dabei. Er verkauft sich laut Jünemann "damals wie heute wunderbar".
Aber leicht war die Zeit zwischen damals und heute nicht. Nach der Wende hat ihm keiner die Pantoffeln abgenommen. Die Schuhgeschäfte wie Leiser oder Neumann wollten nicht. Und der Händler aus Moabit fand Jünemanns Pantoffeln ein "Billigprodukt", weil sie noch so wenig kosteten wie im Osten. Später, als er mit dem Preis raufgehen musste, schimpften dann die Kunden, warum es ihre Pantoffeln nicht mehr für 6,80 Mark gab.
Bis vor drei Jahren haben Vater und Sohn ums Überleben gekämpft. Über die Zeit reden sie nicht viel. Auf den Märkten, wo beide verkaufen, konnten sie immer einpacken, wenn nebenan am Stand jemand Billigpantoffeln verkauft hat. Heute ist es umgekehrt. "Es geht weiter", sagt Vater Jünemann. Er spricht für sich und seinen Sohn und vielleicht für die ganze Familie: "Für uns ist es eine Genugtuung, dass wir überlebt haben." Sie sind die Einzigen. In der DDR gab es in Berlin noch fünf andere Pantoffelbetriebe. 1993 hat der letzte von ihnen dichtgemacht.
Der Sohn, Reno - "wie die Schuhfirma" - Jünemann, steht an seiner "Diva", einer alten, schweren Nähmaschine, die mal läuft und mal sich sträubt, wenn sie die Pantoffeln fertig nähen soll. Der Faden für die Sohle wird dabei durch Pech gezogen, damit er nicht reißt. "Den kriegt keiner durch", sagt der 37-Jährige, "das hält mindestens ein Jahr." So lang ist die Mindesthaltbarkeitsdauer für einen Pantoffel. Das Gute daran ist, dass das den Lünemanns Stammkundschaft verschafft. Manche kaufen seit 40 Jahren die gleichen Puschen. Kamelhaar, versteht sich.
Die Kundschaft sei konservativ, durch alle Schichten durch, erzählt er. Reiche, die sonst nur Gucci tragen, Rocker, Popstars, Politiker, manch Berliner Größe auch - zuhause tragen sie alle Pantoffeln. Denn da zähle Gemütlichkeit, Füße hochlegen und alle fünfe grade sein lassen. "Da ist der Mensch wieder Mensch." Früher, so will Reno Jünemann beobachtet haben, hätten die Leute ihre Pantoffeln eher verschämt gekauft und im Schrank versteckt. "Heute geben die Leute zu: ,Ja, ich bin Pantoffelheld.' - Und ich", fügt er stolz hinzu, "bin auch einer."
Wenn man den Vater danach fragt, wie viel Pantoffeln sie jetzt im Jahr verkaufen, sagt er nur: "alle". 50 bis 60 Stück stellen sie am Tag her, rund 12.000 im Jahr. Ihr Geschäft ist ein Saisongewerbe. Im Sommer, wenn niemand an Hausschuhe denkt, produzieren sie vor - sonst kämen sie ab Dezember gar nicht hinterher. Inzwischen geht ein Drittel des Verkaufs über den Internetversand. Reno Jünemann und seine Angestellte verschicken ihre Pantoffeln in alle Welt, Europa, Amerika, bis nach Südafrika.
Manchmal wird ihre Werkstatt auch zum Museum, durch das sie Kunden führen. Die Japaner zum Beispiel, die von der Manufaktur in ihrem Berlin-Reiseführer gelesen haben und ganz verzückt sind über das alte Handwerk. Oder Schulklassen, damit die Kinder sehen können, wie ein Schuh aus dem Filz wird. Und Günter Jünemann erinnert sich dann an die Zeit, als er selbst noch klein war. "Wir als Kinder wollten eine Maschine entwickeln, wo man hinten alles reinschmeißt und vorne kommt der Pantoffel raus." Heute wollen weder Vater noch Sohn noch die Kunden so eine Maschine.
Jünemanns Pantoffeleck, Torstraße 39 www.pantoffeleck.de
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