: Heuchler als Familienvirus
■ Jürgen Flimm erfüllt sich einen Jugendtraum und inszeniert mit der Thalia-Familie den Tartuffe von Molière als historische und aktuelle Parabel
Am Anfang war der Anfang klar: „Eine Party wollten wir machen, mit Champagner, Ghettoblaster, Polonaise, Phil Collins und allem, was dazugehört. Ausgelassene Menschen, die trinken, lachen und sich amüsieren.“ So sah der Anfang aus, am Anfang jedenfalls. „Wir haben all das wieder rausgefeuert. Plötzlich war klar: Dieses Stück muß mit einem Riesenkrach losgehen. Da muß Streit sein, was ganz Fieses. In der Fachsprache nennen wir so etwas ,Kill Your Darlings', wenn man die Lieblingseinfälle rauspfeffert, falls man sieht, daß sie sich nicht im Parameter des Textes bewegen.“
Was Jürgen Flimm von den Proben für Tartuffe berichtet, ist am Theater nichts Ungewöhnliches. Immer, so Flimm, geht es bei Inszenierungen darum, in der ersten Phase den Text voll auszureizen und in der zweiten zu realisieren, daß die meisten der Einfälle nur „Probenscherze“ waren. Trotzdem war die Arbeit am Molière-Text für ihn anders, schwieriger: „Tartuffe hat ein in sich geschlossenes Gefüge, dicht und hermetisch. Alles ist so ausformuliert. Wie man sich da einbringt, ist eine Frage der Balance.“
Eben dieser Respekt vor solchen „Stücken wie Partituren“ hielt Flimm bis heute davon ab, Molière auf die Bühne zu bringen. Nun wagt er sich an den französischen Klassiker, weil er „endlich die richtige Besetzung“ hat: Ignaz Kirchner spielt Tartuffe, Hans ChristianRudolph Orgon und Ulli Maier Orgons Frau Elmire. Sie ist Flimms Lieblingsfigur im Stück, „weil sie als einzige die Zivilcourage hat, sich Tartuffe entgegenzustellen“ und seine Heuchelei zu entlarven.
Tartuffe ist der Virus, der sich unter dem Deckmantel der Frömmigkeit in die Familie frißt. Orgon deckt ihn, geblendet von seinem Auftreten und seinen Sprüchen. Natürlich liegt hier Flimms Ansatzpunkt: „Es geht um die Diskrepanz zwischen dem, was öffentlich behauptet und dem, was privat gespielt wird. Wasser predigen und Wein saufen, das ist ja eine gängige Geschichte heute.“ Zwar ist die Inszenierung historisch angesiedelt, das heißt Bühne und Kostüme aktualisieren das Paris des 17. Jahrhunderts, doch findet der Regisseur für alle Charaktere Entsprechungen im zeitgenössischen Hamburg. „Nach außen geleckt und dahinter eine ganz kalte Machtmaschine: Der Tartuffe von heute ist jemand wie der Immobilienhai Schneyder. In Österreich ist es noch einfacher: Jörg Haider.“
Die Inszenierung will „höchst erregte Zustände“ zeigen, der „rasante Text“ soll „pfeilschnell“ umgesetzt werden: „Da fliegen ständig kleine Sicheln, ssst, ssst, die Figuren ducken nur so die Köpfe.“ Nur wie am Schluß der Schluß aussehen wird, war beim Interview, eine Woche vor der Premiere, noch nicht klar. Molière löst den scheinbar unlösbaren Konflikt der zerstörten Familie etwas unbefriedigend durch ein völlig unerwartetes Eingreifen des Königs. „Wir müssen noch irgend etwas erfinden, damit wir nicht ins Happy-End ausarten“, sagt Flimm. Am besten Phil Collins einblenden. Ein grausigeres Ende für ein Theaterstück kann man sich schließlich kaum vorstellen.
Christiane Kühl Premiere: Sa, 21. Dezember, 20 Uhr, Thalia
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