: Herz, Schnauze und ein genialer Plot
TRADITION Wo Berlin am berlinerischsten ist: Seit 1909 findet das Berliner Sechstagerennen an wechselnden Orten statt – vom Schöneberger Sportpalast über die Deutschlandhalle zur Werner-Seelenbinder Halle. Nun läuft das Traditionsrennen im Velodrom
Die Berliner und der Radsport, das ist schon eine eigenartige Liebesgeschichte. Vor gut hundert Jahren, im März 1909, wurde das erste Berliner Sechstagerennen ausgetragen, in einer Ausstellungshalle am Zoo. Die Volksbelustigung kam aus Amerika, wo sich die Athleten erstmals 1899 im Madison Square Garden in New York dem Ausdauerwettkampf hingaben. Damals wurde tatsächlich sechs Tage lang gefahren, ohne Unterbrechung. Das war modern, die rücksichtslose Ausbeutung der Sportlerkörper entsprach dem Ideal der Zurichtung von Arbeitskraft im Kapitalismus. Ein genialer Plot, das auch noch als Unterhaltung zu verkaufen.
Von 1911 an fand das Berliner Sechstagerennen im Schöneberger Sportpalast statt, wo es in den 1920ern seine erste Hochzeit erlebte. Von den billigen Plätzen unter dem Dach, dem Heuboden, kommentierte der stolze Prolet „Reinhold Habisch, genannt Krücke“ (so stand es später auf dem Klingelschild seiner Kreuzberger Wohnung) lautstark das Geschehen und begleitete die Kapelle mit gellenden Pfiffen, wenn sie den Sportpalastwalzer intonierte, die Hymne des Sechstagerennens. In spätere Schallplatten-Aufnahmen der eigentlich aus Wien stammenden Stimmungsmucke wurden Krückes Pfiffe eingebaut, obwohl sie ja nicht zur Komposition gehörten. Nur so war sie dem Publikum authentisch. Mit Krücke, dessen freche Anmache auch vor Reichspräsident Paul von Hindenburg nicht haltmachte, hatte das einfache Berliner Publikum einen eigenen Star am Start, der die Distanz zur „echten“ Prominenz aus Sport, Politik und Showgeschäft „mit Herz und Schnauze“ überbrückte. Beim Sechstagerennen war der Berliner ganz bei sich.
Karriere von „Täve“ Schnur
Nach dem Krieg ging es zunächst im Sportpalast, dann in der Deutschlandhalle weiter. In Ost-Berlin gab es seit 1950 die Werner-Seelenbinder-Halle, wo ebenfalls Sechstagerennen und später mit den 1.001-Runde-Rennen die längsten Bahn-Radrennnen Europas gefahren wurden. Radsport war Arbeitersport. In der Seelenbinder-Halle drehte Gustav-Adolf „Täve“ Schur seine Runden, später beliebtester DDR-Sportler aller Zeiten und Volkskammer- sowie Bundestagsabgeordneter. Eine vergleichbare Karriere hat ein westdeutscher Radler nie hingelegt.
Sportpalast und Seelenbinder-Halle sind längst abgerissen, doch wo einst die Seelenbinder-Halle stand, duckt sich nun das Velodrom. Gebaut für die dann doch nicht in Berlin ausgetragenen Olympischen Spiele 2000, ist die 250 Meter lange Holzbahn heute Austragungsort des 99. Berliner Sechstagerennens. Die Veranstaltung wurde am vergangenen Donnerstag vom Vorjahressieger Erik „Ete“ Zabel eröffnet, dem in Ost-Berlin geborenen erfolgreichsten deutschen Radsportler. Schon sein Vater Detlef war Radrennfahrer gewesen, gewann als Jugendlicher im Jahr 1950 das allererste Rennen in der Seelenbinder-Halle. Auf derselben steilen Winterbahn wurde dann Erik Zabel Zweiter, beim letzten der 1.001-Runde-Rennen im Jahr 1989, mit 19 Jahren. Und obwohl Erik inzwischen seinen Abschied nahm, wird die Zabel’sche Familiengeschichte als Sportgeschichte weitergeschrieben: Der 15-jährige Sohn Rick Zabel, der bereits auf Platz acht der Jugendrangliste steht, fährt bei den diesjährigen Berliner Sixdays Nachwuchsrennen.
HEINRICH DUBEL