■ Hello Wladimir: Interimspräsident Putin ist blass und ohne Charisma? Mag sein.Dafür ist er ein rationaler Mann der Tat. Den Aufstieg verdankt er dem Pakt mit dem Militär: Der kalte Spion kommt
Als Moskaus Beau Monde sich ausgelassen ins neue Jahrtausend stürzte, war der Präsident längst an der Front. Kaum ein paar Stunden im Amt, war Wladimir Putin im Outdoor-Look und mit Gattin an die kaukasische Front geeilt – zu den Truppen, die nunmehr seine waren.
Reichlich Orden, gute Wünsche und Jagdmesser verteilte der ambitionierte, aber unprätentiöse Interimschef an die sichtlich bewegten Soldaten und Offiziere. „Russland ist euch dankbar“, sagte Putin. Die Worte klangen lapidar. Sie waren ernst gemeint. Schließlich verdankt Russlands neue Lichtgestalt seine Popularität dem scheinbar erfolgreichen Feldzug im Kaukasus.
Als Wladimir Wladimirowitsch Putin (47) im August auf die politische Bühne gehievt wurde, war er ein gesichtsloser Apparatschik, drahtig und unterkühlt. Eine Figur ohne Aura und Charisma. „Konstruktion WWP“, spöttelten Beobachter anfangs. Wie sollte ausgerechnet er das Wahlvolk gewinnen und nach dem Abgang des Kremlherrn die denkbar schwierigste Aufgabe lösen: die Fortführung des Hauses Jelzin zu sichern und die in Finanzskandale verwickelte Zarenfamilie nebst Hofschranzen vor Strafverfolgung zu retten?
Die russische Öffentlichkeit sah in dem neu gekürten Zarewitsch zunächst nur einen weiteren Auswechselspieler, der, wie seine beiden Vorgänger, bald das Feld verlassen würde. Der vorzeitige Abgang Präsident Jelzins hat die Aussichten des gelernten Geheimdienstmannes auf die Thronfolge noch einmal verbessert.
Schon die Dumawahlen zeigten einen klaren Trend: Die Interessengemeinschaft Jelzin/Putin, die hinter der Kremlpartei „Einheit“ steckt, ging um wenige Zehntelprozent hinter den Kommunisten als zweitstärkste Kraft aus den Wahlen hervor. Spielend hatte Putin den bisherigen Günstling des Volkes abgehängt, den altväterlichen Sowjetbürokraten Jewgeni Primakow.
W. W. Putin genießt im Volk Rückhalt wie kein Politiker mehr seit den frühen Zeiten des Volkstribuns Jelzin. Und das, obwohl die meisten in ihm zunächst nur einen gekauften Bauern sahen. Inzwischen schaut das Volk ergeben zu seinem neuen Erlöser auf. Die notorisch streitsüchtige und missgünstige russische Gesellschaft kennt keine Zwietracht mehr. Rivalen erstarren in Andacht, sobald Putin die Szene betritt. Ob Kommunist Gennadi Sjuganow oder der einstmals liberale Vortänzer Anatoli Tschubais, sie alle vereint der neue Mann. Wer es wagt, ihn zu kritisieren, läuft Gefahr, sich aus der Erlösergemeinde auszugrenzen. Nur eine Hand voll Menschen widersetzt sich.
Was macht den bürokratenblassen Premier, dessen wächsriges Äußeres dem Drehbuch eines amerikanischen Spionagefilms entstammen könnte, zu einem Hoffnungsträger und Volkshelden? Längst ist vergessen, worin seine Hauptaufgabe besteht: den Jelzin-Clan vor dem Gesetz zu schützen. Per Ukas sicherte der Interimspräsident dem scheidenden Patriarchen und seiner Familie denn auch im ersten Amtsakt Immunität vor Strafverfolgung zu. Die Entschiedenheit, mit der der Jurist im Kaukasus „Banditen“ ausräuchern lässt, beeindruckt die Bürger. Sie fühlen sich wieder sicher. Dabei ist Putin nicht etwa ein besserer Patriot als der ehemalige Geheimdienstchef und Vorgängerpremier Primakow. Aber er ist jünger und ein Mann der Tat.
Den Aufstieg verdankt der Ministerpräsident dem Schulterschluss mit den Militärs. Die Generalität erhielt freie Hand, um in Tschetschenien Rache für den verlorenen ersten Krieg zu üben. Als Gegenleistung darf sich der kaukasische Sprengmeister vor laufenden Kameras allabendlich in Siegerpose werfen. Dem Volk gab Putin ein Gefühl der Größe und Überlegenheit zurück. Die von Niederlage zu Korruptionsskandal flüchtende Armee gilt wieder was. Sollte der Feldzug allerdings scheitern, dürfte der Teufelspakt mit der Generalität dem Premier zum Verhängnis werden.
Der Handlungsreisende Putin verbrachte mehr als die Hälfte seiner Amtszeit als Premier auf Reisen in die Provinz. Nach der Gunst des Volkes galt es, die Entscheidungsträger in den Regionen, die Gouverneure, zu gewinnen. Es ist auffällig, wie sehr der Regierungschef ohne eigene Hausmacht bemüht war, den Eindruck einer selbstständigen Kraft zu erwecken, die weder vom Clan der Jelzin-Familie noch den windigen Finanzoligarchen, die sich des Kremls bemächtigt haben, abhängig ist. Überhaupt meidet er tunlichst, sich in innenpolitischen Auseinandersetzungen festzulegen. Minister Germann Gref charakterisierte den starken Mann gar als überängstlichen Kunktator: „Sobald er einen Konflikt zwischen den Interessen der Finanzwelt und der Politik wittert, schiebt er die Sache von sich mit der Begründung, er wolle kein Richter sein.“ Entschlossenheit und Kompromisslosigkeit nur im Falle Tschetscheniens. Knallharte Haltung nur dort, wo es die eigene Position nicht gefährdet?
Fest steht: Putin verkörpert in seiner schmallippigen Bürokratenart mehr als einen Handlanger eines faulenden Systems oder eine Figur, die auf Gedeih und Verderb vom Willen des launischen Pantokrators im Kreml abhängig war. Der langjährige Geheimdienstmann, der es 1998 zum Direktor des FSB, der Nachfolgeorganisation des KGB, brachte, ist Protagonist eines spezifischen russischen Entwicklungsweges. Seine Biografie gibt Aufschluss, obgleich oder gerade weil seine Agenten-Legende einige Lücken aufweist. Fast siebzehn Jahre verbrachte Putin als Mitarbeiter der Auslandsaufklärung in der DDR – daher rühren auch seine soliden deutschen Sprachkenntnisse. Offiziell überwachte er die deutsch-deutschen Kontakte und sondierte innenpolitische Stimmungen und Bündnistreue der Ostdeutschen. Ende der offiziellen Legende.
1989 kehrt Putin nach Leningrad zurück, 1992 avancierte er unter dem Reformer Anatoli Sobtschak zum stellvertretenden Bürgermeister. Für Westfirmen, die sich in St. Petersburg niederlassen wollten, war Putin nunmehr die Schlüsselfigur. Der Großmachtideologie blieb der aufgeklärte Spion wie die meisten Geheimdienstler verhaftet. Nachdem die Liberalen ihre Chance verspielt haben, scheint Russland aufgeklärten Patriarchen, die der Zeit der Perestroika entstammen, den Vorzug zu geben. Ob sie Putin oder Primakow heißen, ist nebensächlich. Ihre Wurzeln sind dieselben. Man wird versuchen einen starken Zentralstaat wieder zu errichten und dessen regulierende Rolle in der Wirtschaft zu betonen. In der Isolation und Abschottung gegenüber dem Westen sehen diese Kräfte kein Allheilmittel.
In seiner ersten Rede, der Neujahrsansprache, sagte Wladimir Putin, er warne „vorbeugend, dass jeder Versuch, den Rahmen der Gesetze und der Verfassung Russlands zu verlassen, entschlossen verhindert wird“. In seinem Büro hängt ein Porträöt Peters des Großen, der seinem Staat im 18. Jahrhundert eine schmerzhafte Modernisierung aufoktroyierte, die das Land nach Westen öffnen sollte. Diente es dem Projekt, war er brutal und jederzeit bereit, die Waffen sprechen zu lassen. Pardon kannte dieser Zar nicht.
Klaus-Helge Donath, Moskau
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