Heimkinder: Und vergebt uns unsere Schulden
Die Evangelische Landeskirche Hannover hat sich für begangenes Unrecht in ihren Kinderheimen der 50er und 60er Jahre entschuldigt. Ein Lippenbekenntnis, finden die Opfer. Sie fordern finanzielle Entschädigungen.
Tausende Menschen quälen sich täglich mit alptraumhaften Erinnerungen an ihre Zeit in kirchlichen Kinderheimen. Erinnerungen an Schläge und Folter, manchmal sogar Vergewaltigungen. Nun hat sich die Evangelische Landeskirche Hannover für begangenes Unrecht in ihren Einrichtungen entschuldigt. Schon lange fordern die Opfer eine Aufarbeitung der kirchlichen Erziehungsmethoden in den Nachkriegsjahren.
Die niedersächsische Landeskirche ist bislang die einzige, die bei den Opfern um Vergebung bittet. Unter ihrer Obhut lebten zwischen 1945 und 1975 etwa 50.000 Kinder in Waisen- und Erziehungsheimen. Von christlicher Nächstenliebe spürten die meisten Kinder allerdings nur wenig. Der 62-jährige Benno Kramer (Name von der Redaktion geändert) aus Lübeck kann bis heute keinem Pastor oder Pfarrer ins Gesicht sehen, ohne dass sein Herz rast. "Ich habe Angst vor einer Affekthandlung", sagt er.
Während seiner Odyssee durch insgesamt zehn Heime, lebte Kramer auch in einigen niedersächsischen Einrichtungen. Von seinen Erlebnissen erzählt er mit bebender Stimme. Kramers erstes Heim war das katholische Waisenheim in Weihe bei Buchholz. Das von Nonnen geleitete Haus sei ein "Konzentrationslager für Kinder" gewesen. "Wir hatten dort keine Rechte, das war regelrechte Folter", sagt Kramer. Sogar während des Unterrichts wurden Kinder mit dem Rohrstock blutig geschlagen.
Zwischen 1945 und 1975 wuchsen bundesweit rund 850.000 Kinder in Waisen- und Erziehungsheimen auf. Drei Viertel der Heime wurden von kirchlichen Trägern geführt.
In Niedersachsen lebten etwa 50.000 Kinder und Jugendliche in 77 konfessionellen Heimen.
Viele Insassen litten unter brutalen Erziehungsmethoden, Arbeitszwang, Prügel und sexuellen Übergriffen.
Rund 5.000 Einzelakten über Heimkinder hat das Land Niedersachsen zusammengeführt.
Verjährt ist ein Großteil der Fälle. Trotzdem haben die 79 Amtsgerichte die Anweisung, keine Akten zu vernichten.
Ein Forschungsprojekt, finanziert von evangelischer und katholischer Kirche, untersucht die Geschehnisse.
Gewalt herrschte auch im diakonischen Heim "Himmelsthür" in Hildesheim. Mit Schrecken erinnert sich Kramer an folternde Erzieher, die ihn fast ertränkten. Ähnlich erging es dem 58-jährigen Günter von Ohlen. Weil er als schwer erziehbar galt, kam er mit elf Jahren in das evangelische Wichernstift in Delmenhorst. Zwölf Jungen schliefen in einem Dreibett-Zimmer. Ob Direktor, Lehrer oder Erzieher - Schläge gehörten im Stift zum pädagogischen Instrumentarium. "Der Hausleiter hatte einen mit Sand gefüllten Schlauch und damit gab es Prügel für unerlaubtes Verlassen des Geländes", erzählt von Ohlen. Noch heute höre er das Weinen und Schreien der Kinder.
Die Entschuldigung der niedersächsischen Landeskirche ist für Kramer und von Ohlen nur ein Lippenbekenntnis. Sie fordern eine finanzielle Wiedergutmachung.
Stellvertretend für tausende Opfer sitzt derzeit der Verein ehemaliger Heimkinder auf Bundesebene an einem Runden Tisch in Berlin. Noch bis 2010 wird dabei über eine finanzielle Entschädigung und den ungehinderten Zugang zu Akten der Jugendfürsorge verhandelt.
Außerdem soll ein von evangelischer und katholischer Kirche finanziertes Projekt die Nachkriegsjahre in Kinderheimen wissenschaftlich aufarbeiten. Projektleiter Traugott Jähnichen fordert, dass die Opfer "umfassend entschädigt und rehabilitiert" werden. Zudem müssten die Kirchen ihre theologische Schuld deutlich bekennen, sagt der Theologieprofessor.
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