■ Heimatkunde (7): „Vom Bauplatz zum Kasernenhof“ – ein Erlebnisbericht: Willi Stoph in Krieg und Frieden, erster Teil
Etliche noch vor dem Ersten Weltkrieg erbaute Kasernenanlagen erstrecken sich an der Magdeburger Straße in der Havelstadt Brandenburg. Untergebracht sind dort jetzt eine Fachhochschule mit verschiedenen ingenieurswissenschaftlichen Zweigen, Behörden wie das Oberlandesgericht und Grundbuchamt, demnächst zieht auch die Staatsanwaltschaft ein. Für die zeitgeschichtlich relevantesten Gebäude – die ehemalige Artilleriekaserne – sucht die Hausherrin, eine Steuerberaterfirma, noch nach einem attraktiven Branchenmix.
Der dann wohl endgültig vergessen machen wird, daß sich hier – von Oktober 1935 bis September 1937 – eine für die Führung der jungen DDR äußerst heikle Episode zutrug: Der Grundwehrdienst des späteren DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph in der 4. Batterie des Artillerieregiments 59 der deutschen Wehrmacht. Je nun – im Dritten Reich für Proletarier wie den gelernten Maurer Stoph eigentlich nichts weiter als ein obligatorischer Karriereabschnitt, genau wie sein mit dem EK II belohnter Einsatz als Stabsgefreiter des Artillerieregiments 293 im Rußland-Feldzug bei Jeremov und Orel. „Der Gefreite Stoph war der beste Fahrer eines Kübelwagens, den ich je hatte. Er war kein besonders zackiger Soldat, aber er war nicht nachlässig“, vertraute Regimentskommandeur Oberst Max Semmler der „Zeitschrift“ Jasmin als Wiesbadener Pensionär im April 1970 an.
Als Stoph sich dann 1942 in den Dnjepr-Sümpfen eine schwere Malaria einfing, schien er Hitlers Wehrmacht endgültig hinter sich gelassen zu haben: Nach einem Lazarettaufenthalt arbeitete der gebürtige Treptower – von einem kurzen „Volkssturm“-Intermezzo beim Eintreffen der Russen abgesehen – als Bauleiter im zerbombten Berlin. (Mit einer hübschen Wohnung im Zeitungsviertel, Neuenburger Straße 33, inkl. Telefonanschluß).
Im Juli 45 entließ ihn die Rote Armee aus dem Gefangenenlager in den Rüdersdorfer Kalkbergen; schon das Berliner Telefonbuch vom Februar 1946 führte ihn als Gruppenleiter der Zentralverwaltung Industrie, später fungierte er u.a. als Leiter der Abteilung Baustoffindustrie und Bauwirtschaft der Deutschen Wirtschaftskommission, als Leiter der Hauptabteilung Grundstoffindustrie und der Abteilung Wirtschaftspolitik beim SED-Parteivorstand, dazu als Volkskammerabgeordneter, Mitglied des Zentralkomitees, Innenminister, stellvertretender Ministerpräsident und – seit 1956 – Generaloberst und Verteidigungsminister der DDR.
Erst in dieser Position holte ihn die Brandenburger Kaserne dann wieder ein: Dort hatte Kanonier Stoph nämlich zeitweilig eine Art Schriftstellerlaufbahn angestrebt und die Fachzeitung der NS-Betriebsgemeinschaft Bau in der deutschen Arbeitsfront hatte 1937 auch einen „Erlebnisbericht“ über seine Rekrutenzeit abgedruckt: „Vom Bauplatz zum Kasernenhof“.
Den schickte ein alter Kamerad von Stube 65 Anfang Mai 1960 an den Rias, der, zusammen mit der BZ, den nunmehrigen Oberkommandierenden der NVA genüßlich damit konfrontierte. Tatsächlich vertrat Stoph, schon als 14jähriger 1928 zum Kommunistischen Jugendverband gestoßen, hier überraschende Ansichten: Die Wiedereinführung der Wehrpflicht habe „die Menschen auch äußerlich verändert“, Deutschland sei, so der Führer, „wieder seiner Soldaten würdig geworden“. Vor zwei Jahren sei er mit anderen jungen Bauarbeitern eingerückt. Gediente Kollegen hätten zwar gewarnt, beim Barras werde man ihnen „die Hammelbeine langziehen“, „für uns galt aber der Satz: Bangemachen gilt nicht“. Als wichtigstes hätten sie „den ,goldigen Humor‘ und den guten Willen mitgebracht“. Nach dem Abschied auf dem Bahnhof („So manches Taschentuch der winkenden Bräute und Angehörigen wurde dabei feucht“), sei man in Brandenburg unter „frohen Klängen der Musikkapelle“, reichem Flaggenschmuck und dem Jubel der Bevölkerung zur Kaserne geführt worden, wo schon „gutes und reichliches Essen“ dampfte. Dann „Einkleiden auf der Mottenkammer“ („Erstaunlich, was im Spind alles verstaut werden kann, natürlich in mustergültiger Ordnung!“), das Einnähen der Decke in den Bettbezug und am nächsten Morgen dann ein launiger Appell:
„Der Stubenälteste brüllt: ,Achtung!‘, so daß wir vor Schreck die Hosen fallen lassen, und er meldet: ,Stube 65 alles gesund!‘ Der U.v.D. flucht: Vielleicht kommen bald die Fenster auf, hier stinkt's ja wie in einem Affenstall!“ Spätestens nach der Vereidigung konnte solcher Umgangston Kanonier Stoph nicht mehr verunsichern:
„Beim Fußdienst: Der Hauptmann beobachtet mit kritischen Blicken, wie sich die Rekruten anstellen. Schließlich fragt er einen: ,Wie heißen Sie?‘ Der Angesprochene steht stramm und antwortet: ,Willi Kirchhoff.‘ Der Hauptmann räuspert sich: ,Ob sie Willi, Franz oder Emil heißen, ist mir völlig gleich. Für mich sind Sie der Kanonier Kirchhoff, verstanden!‘ Der Rekrut stottert: ,Jawohl, Herr Hauptmann.‘ Auf der Stube haben wir aus vollem Herzen über diese ,Pille‘ gelacht.“
Wie der „goldige Humor“ überhaupt oft zum Zuge kam: „In den ersten Wochen durften die Rekruten nicht aus der Kaserne, weil sie noch nicht grüßen konnten. Das war sonntags nicht gerade angenehm, zumal wir an der Straße lagen und diese voller Spaziergänger war. Aber wir hatten ja soviel Arbeit mit Namen einnähen, Strümpfe stopfen usw., daß auch der dienstfreie Tag restlos ausgefüllt war. Am dritten Sonntag führten uns die Stubenältesten und Korporalschaftsführer aus. Das geschah so, daß wir stubenweise für ein paar Nachmittagsstunden in der Umgebung in der Stadt selbst herumspazierten. Endlich nahm der Chef die Grußabnahme vor, und wir konnten allein ausgehen [...] Und montags wurde uns dann der Urlaub ,ausgetrieben‘. Eine harmlose Angelegenheit, die nur etwas Schweiß kostete.“
Hoch her ging es dafür auf dem „Batteriefest“: „Die Angehörigen waren den Einladungen zahlreich gefolgt, worüber sich wohl am meisten der Rechnungsführer freute. Einige Kameraden führten ein Theaterstück vor und andere sangen selbstverfaßte Verse, die auf unsere Vorgesetzten in der Batterie gemünzt waren. Das gab einen großen Spaß. Bis in die späte Nacht wurde getanzt, und auch die Biermarken, die wir bekamen, seien erwähnt.“ Wie auch „ein Erlebnis von bleibendem Wert – die Geburtstagsparade vor dem Führer. Da wurde tagelang geputzt und gearbeitet, denn jede Truppe hat den Ehrgeiz aufzufallen.“
Weniger gern war man beim Waffen- und Revierreinigen aufgefallen („Der Karabiner ist die Braut des Soldaten und muß liebevoll behandelt werden“), und „einige Leichtsinnige versäumten sogar den Zapfenstreich und kamen zu spät. Sie wurden entsprechend bestraft. Wir hatten für diese Leute einen Vers gereimt, der bei jeder passenden Gelegenheit gesungen wurde: Er lautete: ,Haust du auch über'n Zappen mal / Erwartet dich des Baues Qual / Urlaubsbeschränkung gibt's bestimmt / Du schläfst, wenn andere ,wetzen‘ sind / Des abends pünktlich neunzehn Uhr / Geh'n sie im Stahlhelm übern Flur / Den U.v.D. woll'n sie vertreten / Diese Kasernenblüten.“
Und Stophs Fazit seiner zwei Jahre lautete: „Unbeschreiblich, mit welcher Begeisterung wir allerorts von der Bevölkerung empfangen wurden... Wer einmal beim Kommiß war und ein Manöver mitgemacht hat, der weiß, was wahre Volksgemeinschaft ist. Soldat sein heißt hart sein! Soldat sein heißt lustig sein! Wir haben versucht, beides zu sein.“
West-Journalisten trieben noch weitere Stubenkameraden des einstigen Gelegenheitsjournalisten auf, die sich daran erinnerten, daß der „Erlebnisbericht“ Stoph eine Belobigung vom Regiments-Kommandeur eingebracht hatte. Stoph habe damals auch Liebesgeschichten verfaßt und an Redaktionen eingesandt, seinen Dienstausweis als freier Mitarbeiter des Völkischen Beobachters habe er Kameraden gern gezeigt. Christian Meurer
Der zweite Teil folgt morgen
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