: Heiliges Wasser gegen die Dürre
Das indische „River-Link“ - Projekt will die größten Flüsse des Landes vernetzen
Nicht „Jahr des Wassers“, sondern „Jahr des Wassernotstands“ – so lautet die düstere Prognose indischer Experten für 2003. In den letzten Jahren regnete es so knapp, dass bereits Monate vor dem nächsten Monsun ein Sechstel des Landes ausgetrocknet ist. In einem Fünftel aller Bezirke ist die Trinkwasserversorgung gefährdet. Wer es sich leisten kann, zapft mittels privater Pumpe Grundwasser an. Dessen Spiegel sinkt ständig – bis zu sechs Meter in den letzten zwanzig Jahren.
„Wasser ernten“ hat in Indien Tradition – aus schierer Not. Das Monsunklima lässt drei Viertel des Regens in hundert Stunden niedergehen, die für die restlichen 8.660 Stunden „gelagert“ werden müssen. Das Land besitzt das größte Bewässerungssystem der Welt, doch chronische Vernachlässigung hat zum Versanden der Kanäle, Reservoirs und Flüsse geführt. Die Investitionen wurden von 22 Prozent auf 6 Prozent der Staatsausgaben zurückgefahren. Von geschätzten 4.000 Milliarden Kubikmetern Regen werden nur 634 Milliarden genutzt, der Rest fließt ins Meer. Ausbleibender Regen und Wasserknappheit auf der einen Seite, ungebremster Verbrauch auf der anderen, so wächst sich die Misere zur handfesten Krise aus.
Ein großtechnischer Rundumschlag soll nun Abhilfe schaffen. Die 37 größten Flüsse des Landes sollen binnen zehn Jahren mit Kanälen und Reservoirs ein Wassernetz bilden. Im Jahr 2006 soll mit der gigantischen Aufgabe begonnen werden. Sowohl das nördliche Flussystem im Süden des Himalaja als auch die Flüsse im südlichen Dreieck sollen vernetzt werden. Im Westen und im Osten werden sie in einem gewaltigen Klammergriff von 9.600 Kilometern Kanallänge miteinander verkoppelt, um das Überschusswasser des Himalaja an den wasserarmen Westen und Süden abzugeben.
Der Yamuna soll in einem Kanal durch die Wüste von Rajasthan zum Narmada abgeleitet werden. Im Osten soll sich der riesige Brahmaputra, dessen Wasser zu 97 Prozent ins Meer fließt, mit dem Ganges und anderen Einzugsgebieten bis zum Kaveri an der Südspitze verknüpfen. 32 Dammreservoirs und Pumpen mit einer Gesamtleistung von 10.000 Megawatt sollen das Wasser über Hügelketten hieven.
Laut Regierung wird der Energiegewinn immer noch 24.000 Megawatt betragen, vom Wassersegen erhofft man sich die Verdoppelung der Nahrungsproduktion. Die Verarmung der Bauern und die Migration in die Städte würden ein Ende nehmen. Abgesehen von Millionen Hektar neuem Ackerland brächte der Bau jährlich 37 Millionen Arbeitsplätze. Mit 112 Milliarden US-Dollar kostet das Projekt allerdings zehnmal mehr, als Indien in den letzten fünfzig Jahren für seine Bewässerung ausgegeben hat. Die jährlichen Ausgaben allein würden 30 Prozent der gesamten Steuereinkünfte verschlingen.
Kritikern gelten diese Zahlen als Symptom für die Gigantomanie der indischen Volksvertreter. Sie warnen, dass sozial- und wirtschaftspolitische Programme auf Jahre hinaus vom Tisch gewischt würden. Die gesamte Zukunft des Landes würde an ein einziges Projekt geknüpft, dessen Erfolgschance mehr als fraglich sei. Wie Überschusswasser umgeleitet werden solle, fragen Umweltschützer, wenn alle Flüsse gleichzeitig Hochwasser führten? Andere kritisieren, der ungezügelte Verbrauch werde mit mehr Wasser „belohnt“, anstatt mit erhöhten Preisen für Sparsamkeit zu sorgen. Die Vermutung der Kritiker: Das „River Link“-Projekt diene den Politikern zum Stimmenfang und als Einnahmequelle. Denn die Milliarden Steuergelder würden nicht nur als Wasser auf die Felder, sondern, wie üblich, in die Taschen der Staatsdiener fließen. BERNARD IMHASLY