: Haus der verlorenen Seelen
Sigrid Behrens machte bislang vor allem als Autorin von Theaterstücken auf sich aufmerksam. Nun hat sie ihr erstes Prosabuch geschrieben: „Diskrete Momente“
Einige der Fenster sind erleuchtet, obwohl zu dieser Uhrzeit alle Menschen den Schlaf der Gerechten schlafen sollten. „Es ist Nacht. Ich baue eine Haus. Ich stelle es vor mein Fenster, damit ich es genau anschauen kann“, lauten die ersten Sätze, die den Leser sofort zum Kovoyeur machen. Da das Haus gegenüber nun mal da ist, müssen auch Wohnungen rein, die, da sie nun mal da sind, belebt sein sollten. Also bevölkert die Erzählstimme die Wohnungen gegenüber, um den Bewohnern bei ihren nächtlichen Verrichtungen zusehen zu können. Zuerst ist da der Mann und Fahrstuhlfahrer, dessen Name lange nicht preisgegeben wird. Etwas weiter unterhalb von Robert geht das Ganze dann schon schneller. Dass die Frau einige Etagen tiefer Edith heißt, erfährt man sofort. Bei ihr ist die Wohnung hell erleuchtet, während eine andere Frau lediglich dasitzt, eine Leuchte in der Hand hält „und strahlt wie der Raum“.
Siegfried Behrens entwirft in ihrem Prosadebüt „Diskrete Momente“ ein Spiel von Licht und Dunkelheit und begibt sich als Erzählerin in die komfortable Situation, den Imaginationsraum auf der anderen Seite der Straße wie einen Weihnachtskalender mit bereits geöffneten Türchen vor sich hinzustellen. Gelegentlich sind die Nachtwesen allerdings so zart getupft, dass die Konturen unscharf bleiben und die Lebensumstände der Menschen im Haus gegenüber nur durch ihre Umgebung deutlich werden. Helene zum Beispiel ist aufgewacht und lauscht dem Atem des Mannes, der an ihrer Seite schläft und dessen Körper zu einer Landschaft mit „Atollen“ und „Grenzgebieten“ wird. Als Soundtrack zum Bild gibt es den „doppelten Atem“ im Zimmer, während zur gleichen Zeit ein alter Mann schon wieder in der Küche steht und Kaffee braut.
Er heißt Adam und wird zuerst nur im Zusammenhang mit Helene erwähnt. Später führt er ein längeres Selbstgespräch und rekapituliert, was er nun selbst macht, seit seine Frau verstorben ist. Schwarzen Filterkaffee brauen zum Beispiel und mit dem Sittich Selbstgespräche führen, der jetzt nicht mehr „Hansi“, sondern „Butschi“ heißt. Adam versteht die Welt seiner Kinder nicht mehr, während die Kinder seine Kochkünste nicht mehr verstehen. Das „Adam“-Kapitel ist die erste Passage mit einer handfesten Figur. Man meint, den einsamen alten Mann in der klammen Küche zu sehen und den Duft des Filterkaffees zu riechen.
Die dreißigjährige Autorin machte bislang vor allem mit Theaterstücken auf sich aufmerksam. Sie zählt zur jungen Gilde von Bühnenautoren, die sehr schnell den Sprung ins Theater geschafft haben. Parallel versuchte sie sich als Prosautorin und war vergangenes Jahr mit einem Text beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb vertreten. Genau der bildet nun den Schlussteil ihres ersten Erzählbandes und fügt sich insofern umstandslos ein, als auch der Schlafwagenschaffner Karl allmählich vereinsamt.
Eigentlich wäre Karl Jurist geworden, hätte er sein Studium nicht mit dem Job als Nachtzugschaffner finanziert und die nächtliche Reise von Metropole zu Metropole nicht so reizvoll gefunden. Das war’s dann. Er vergaß die Hörsäle zugunsten der Schlafabteile und kann auch heute noch „beim Einfahren des Zuges die Städte am Geräusch der Gleise“ erkennen. Auch er ist einer jener verlorenen Seelen in Sigrid Behrens’ Haus auf der anderen Seite, die allesamt wie melancholische Nachtfalter wirken. Für Karl kam der Wendepunkt, als er wieder einmal bei der Geliebten einkehren wollte, die ihren Dienst in der Bar Terminus in der Nähe des Pariser Gard du Nord versah. Für Lucie ließ Karl sich Dienstpläne maßschneidern und meinte, das geborgte Glück des Ankommens und Abreisens sei ewig. Dann allerdings war Lucie plötzlich nicht mehr da, und Karls Einsamkeit wuchs. In der dezenten Schilderung melancholischer Stimmungslagen ist Sigrid Behrens schon jetzt eine Meisterin. Bleibt abzuwarten, inwiefern sie in künftigen Prosatexten ihr Stimmungspanorama erweitert.
JÜRGEN BERGER
Sigrid Behrens: „Diskrete Momente“. Hanser Verlag, München 2007, 156 Seiten, 16,90 Euro