Hauptstadtmusik: Von Putten und Engelszungen
■ Grenzüberschreitungen: Verstreute Notizen von den Berliner Bachtagen
„Im Zeitalter des kulturellen Pluralismus sind die Menschen liberal geworden, aber ihre einzelnen Werke haben viel von ihrer Verbindlichkeit eingebüßt.“ Diesen seltsamen Satz finde ich auf der allerletzten Seite des Programmbuches zu den diesjährigen Berliner Bachtagen. Der Satz stammt aus einem Vortrag des Vorjahres (von Prof. Rudolf Stephan) – und, halb erfreut, halb bedauernd, eignet ihm jenes unentschieden abgeklärte und pseudodialektische Zweierlei, welches, bevor man anfangen kann, darüber nachzudenken, schon wirkt wie Medizin: wie eine tiefere Weisheit. Dabei erklärt die zweite Satzhälfte sich nur aus der ersten, und die erste Satzhälfte ist leicht entlarvt als ein liebenswürdiges Wunschdenken: ja, wo sind sie denn bloß, all diese „Liberalen“? Es müssen Bewohner des Elfenbeinturmes sein.
Man trifft sie alljährlich im Juli an in Berlin bei den Bachtagen. Bach ist ein sehr breites Dach, da paßt allerlei drunter. Beim Abschlußkonzert in der Philharmonie etwa geht es eher streng werkverbindlich zu: Trevor Pinnock hält sein Ensemble fest im Griff und schwer auf Trab. Sein „English Concert“ marschiert so schnell und stramm durch die Ouvertüren- Suiten BWV 1066 bis 1069, als gelte es, einen Blitzkrieg zu gewinnen.
Die Musiker müssen sich vermutlich aus zweierlei Gründen so beeilen: erstens spielen sie auf alten Instrumenten, und die Streicher verlieren Satz für Satz an Stimmung. Zweitens ist der Zeitgeist hinter ihnen her: diese maschinenmäßig wie am Schnürchen klappende, diese streng britische Art, alte Musik im Originalklang zu exekutieren, ist schon wieder ziemlich out. Schnell wechseln die Moden der Aufführungspraxis. Mag sein, so spielt man heute Mendelssohn; aber nicht mehr Bach. Trotzdem macht das nichts, was „man“ macht, das ist hier sowieso nicht so wichtig. Applaus für die Naturtrompeten und die übrige schwergängige, aber rasant bediente historische Bläserbatterie: schon unter sportivem Aspekt sind an diesem Abend wieder einige Rekorde eingestellt worden.
Rein rechnerisch haben die Bachtage heuer eine leichte Flaute zu verbuchen: sie fallen zufällig in die Schulferien, man klagt über Publikumsschwund. Tatsächlich sind die 30 Konzerte mitten im Sommerloch aber vergleichsweise vorzüglich gut besucht, und die zwei Konzerte im Berliner Dom sogar restlos ausverkauft. Weniger wegen Bach – es ist eher der Dom, der da ruft. Obschon nach wie vor umstritten, ob dieses Etablissement mit seinen Nachhall-Problemen überhaupt für Konzerte geeignet sein mag – hier weht in jedem Fall ein Zipfel vom Mantel der Geschichte. Einmal im Leben Bach hören im Berliner Dom! Das hat etwas. Die Bachtage haben schon in den letzten zwei Jahren vorbildlich pioniermäßig gearbeitet und praktische Wiedervereinigung betrieben dergestalt, daß sie neue Mäzene im Westen und neue Veranstaltungsorte im Osten suchten und fanden. Jetzt ist das Programm gerecht über die ganze Hauptstadt ausgebreitet und reicht sogar bis hinaus in die Mark.
Das Hilliard-Ensemble singt auch dieses Jahr wieder in der Sophienkirche im Scheunenviertel. Schon auf dem Weg dahin wird mir ganz weich ums Herz. Kommt man nämlich hinten rum an, von der Sophienstraße aus, geht es quer durch einen winzigen wildromantischen Garten, wo das Gras mitten im Sommer, mitten in der Stadt, so lindgrün wächst, als wäre es ganz jung. Von den Grabplatten gucken mich ein paar freundliche Putten an. Die Nasen sind ihnen weggebröckelt, halbe Gesichter dem Steinfraß zum Opfer gefallen – aber das Lachen noch nicht vergangen. Ihnen habe ich zu verdanken, daß ich auch drinnen in der Kirche plötzlich überall Engelsgesichter entdecke – ernsthafte und vollständige, jeweils eines im Scheitel jedes Fensterbogens hoch oben. Dann fangen die vier bis fünf Hilliards an zu singen, mit ihren verteufelt perfekten Engelszungen.
Mit sündig-süßem Liebreiz die hohe und warm-umärmelnd die tiefe Männerstimme. Und obendrüber schwebt, zu allem Überfluß, mit der hellgrünen Inbrunst eines soeben erst gefallenen Engels das Falsett. Die Hilliards kippen in die Schräglage, aber nie stürzen sie ab. Sie sind (fast) makellos – und wo sie wegzubröckeln drohen am überzeugendsten. Keiner außer ihnen kann gemeinsam ein decrescendo so endlos ausschwingen lassen. Niemand hat bislang so wie sie bewiesen, wie neu alte Musik sein kann. An diesem Abend singen sie im Wechsel Stücke des 15. und 20. Jahrhunderts. Weil Roger Covey- Crump erkrankt ist, wird zwar das ganze ausgeklügelte Programm über den Haufen geworfen – aber dafür gibt es zum Abschluß unvorhergesehen als Geschenk die orgiastischen Klagelieder des Jeremias von Thomas Tallis, in denen die ausgesungenen Anfangsbuchstaben, wie meist bei Lamentationes, das Schönste und Gefährlichste sind.
In der Sophienkirche sitzen feine alte Damen neben Punkern und chronische Pfadfindertypen neben frisch Verliebten. Daß Bachtage überall auf der Welt, rein garderobenmäßig betrachtet, die gesamte Bandbreite gesellschaftlicher Minderheiten widerspiegeln – vom rohseidenen Abendkleid zum härenen Gewande – ist nichts Besonderes. Auch der Berliner ideelle Gesamtbachianer war schon immer ein eher grenzüberschreitender solcher. Doch heute darf man ohne Übertreibung sagen: die Berliner Bachtage sind ein Kulturereignis geworden, wo sich wirklich rest- und wunschlos die Wiedervereinigung vollzogen hat. Hier kennt man weder Sachsen mehr noch Schwaben, hier gilt nur Mensch und Musik. Eleonore Büning
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen