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■ Hat der Sozialstaat noch eine Zukunft? (4) Kleiner Leitfaden durch die Wirtschaft im globalen DorfDie virtuelle Ökonomie in McWorld

Endzeitstimmung ist angesagt, wenn die Postmoderne ins Visier gerät. Die „großen Erzählungen“ (Lyotard) der Aufklärung von Fortschritt, Industrialisierung, Nationalstaatenbildung, Demokratie und Sozialstaat sind der Dekonstruktion anheimgefallen. Zwielicht der Souveränität, Ende des Nationalstaats und der Nationalökonomie, gar Ende der Arbeit und Niedergang des sozial kompetenten Staats, lautet die resignative Botschaft einiger Titel, die in den letzten Jahren für Furore sorgten.

Diese Endzeitstimmung geht mit einem grundlegenden und offenbar irreversiblen Wandel der Weltwirtschaft einher, der mit den neuen Schlagworten von Globalisierung und Fragmentierung, Entstofflichung und Entgrenzung, Tertiarisierung und Virtualisierung auf den Begriff gebracht wird. Von diesen Prozessen sind vor allem die ehemaligen Industrieländer des Nordens erfaßt. Der Begriff „Industriegesellschaft“ ist obsolet geworden, wenn, wie in den USA, nur noch 15 Prozent des Sozialprodukts in der verarbeitenden Industrie erzeugt werden und mehr als 70 Prozent aller wirtschaftlichen Tätigkeiten in den Sparten des Dienstleistungssektors versammelt sind.

Insbesondere der sog. quartäre Sektor aus Banken und Versicherungen, Brokerhäusern, Maklern und Steuerberatern, Marktforschern, Designern, PR- und Marketingexperten ist in den letzten zehn Jahren explodiert. Gleichzeitig sind die Kernbranchen der stofflichen Ökonomie entweder verschwunden (Textil und Bekleidung, optische und elektrotechnische Industrie) oder ohne Dauersubventionen (Landwirtschaft, Bergbau, Stahl, Werften etc.) nicht mehr am Leben zu erhalten.

Bei IBM arbeiten von weltweit 400.000 Beschäftigen noch gerade 20.000 in der Werkhalle. Bei VW entfallen 3 Prozent vom Umsatz auf Forschung und Entwicklung, aber 20 Prozent auf Marketing. Die alten Industrieregionen verfallen, während in den Innenstädten die postmodernen Kathedralen des Finanzkapitals, die Shopping Malls und Einkaufscenter, die Freizeitparks und Spaßbäder in gleißendes Licht getaucht werden. Daneben die Pizza-Bring-Dienste, Copyshops, Videotheken, Sexartikelversandhäuser und Karaoke- Bars.

Der innergesellschaftliche Strukturwandel in Richtung auf die postmoderne Dienstleistungsgesellschaft hat sein weltwirtschaftliches Pendant. Nicht mehr der Warenhandel, sondern der Handel mit Dienstleistungen, also Finanzierung, Telekommunikation und Tourismus, expandiert. Nicht der Handel mit Öl, Getreide oder Schweinehälften, sondern der Handel mit Kontrakten auf Öl, Getreide und Schweinehälften, nicht der Handel mit Devisen zur Finanzierung des Außenhandels, sondern die Spekulation auf die Schwankungen von Wechselkursen, Zinssätzen, Aktienindizes und Preisnotierungen beherrscht das Geschäft an den Börsen. Direktinvestitionen werden kaum noch getätigt, um Minen, Plantagen oder Industriebetriebe im Ausland zu gründen, sondern um die Welt mit einem Netz von Banken und Versicherungen, Golfplätzen und Clubdörfern, Werbeagenturen und Fernsehstationen zu überziehen. Nicht mehr die klassischen Multis wie Unilever und Nestlé, Shell und BP, sondern Brokerhäuser wie Merryl Linch, Stanley Morgan oder Megaspekulanten vom Schlage George Souros sind die Akteure in McWorld.

Dieser Trend hat mehrere Ursachen. Zum einen: die nachholende Industrialisierung in Ost- und Südostasien und ihr Verdrängungswettbewerb gegenüber den alten Industrieländern. Er geht schon lange nicht mehr von Japan oder den Schwellenländern der ersten Generation wie Südkorea und Taiwan aus, sondern von Malaysia, Thailand, Indonesien und China. Selbst Indien ist hier in Zukunft zu beachten. Bei Löhnen, die nur zehn Prozent des hiesigen Niveaus ausmachen, bei kaum vorhandenen Sozialleistungen und Umweltauflagen, aber durchaus vergleichbarem Produktivitätsniveau gehört nicht viel Phantasie dazu, wann die Industrie vollends gen Osten gewandert ist.

Zweitens ist dieser Trend das Ergebnis der neoliberalen achtziger Jahre, das Erbe der Reaganomics und des Thatcherismus. Insbesondere die Deregulierung der Finanz-, Medien- und Telekommunikationsmärkte war davon betroffen.

Drittens: Die Grundlage dieser Veränderung schufen die revolutionären Innovationen im Bereich der Telekommunikation, die die Vernetzung der Welt erst technisch möglich gemacht haben. Twenty-Four-Hours-Trading, Internet und Cyberspace lauten die neuen Zauberwörter.

Viertens hat die globale Vernetzung tendenziell zur Aufhebung der Standorte geführt. Dienstleistungen waren im Unterschied zur Industrie weitgehend standortgebunden. Jetzt läßt sich auch hier eine Arbeitsteilung herstellen: Fluggesellschaften, Krankenkassen und Banken können die arbeitsintensive Dateneingabe nach Bangalore oder Schanghai verlagern. Morgens kommen die Postsäcke mit den Buchungsbelegen, abends werden die Daten per Satellit zurückgespielt.

Diese Faktoren haben zu einer regelrechten Verselbständigung der Finanzwelt von der Warenwelt geführt. Das Kreditwesen ist nicht mehr Schmiermittel der Warenwirtschaft, sondern führt ein spekulatives Eigendasein. Der Tauschwert hat sich vom Gebrauchswert abgelöst.

Solange internationale Transaktionen stofflicher Art waren, waren sie, sobald sie Grenzen passierten, auch staatlicher Kontrolle unterworfen. Wenn aber nicht mehr Seerouten, Häfen, Pipelines, Eisenbahnen und Fernstraßen die Infrastruktur, sondern Satelliten, Parabolantennen, Bildschirme und Modems zu den Schnittstellen werden, also nicht mehr Warenströme, sondern Datenströme die Weltwirtschaft abbilden, verliert der Staat die Möglichkeit zur Regulierung schlechthin. Der Markt wird zum Souverän.

Aber auch nach innen vollzieht sich ein dramatischer Kompetenzverlust, insbesondere an der Fiskal- und Sozialpolitik ablesbar. Auf der einen Seite kommt es als Folge der Deindustrialisierung zu einem wachsenden Subventionsbedarf für die noch verbliebene stoffliche Ökonomie, in der wenig qualifizierte Arbeit kaum noch nachgefragt wird. Das verlangt entsprechende Sozialausgaben für diejenigen, die endgültig aus dem Arbeitsprozeß gedrängt worden sind. Nicht jeder freigesetzte Industriearbeiter kann EDV-Experte werden.

Auf der anderen Seite schwindet die fiskalische Kompetenz, weil subventionsbedürftige Industrien schwerlich zu besteuern sind, während die symbolische Ökonomie der Bildschirme sich aufgrund ihrer Globalisierung nationaler Besteuerung zu entziehen vermag. Schwindende Mitgliederzahlen bei Gewerkschaften und überforderte Sozialkassen sind nur die zwei Seiten einer Medaille.

Was tun? Wenn überhaupt, kann die Lösung nur darin liegen, die entstofflichte Ökonomie wieder in staatliche Kompetenz zurückzuholen. Dies ist, aufgrund ihres grenzenlosen Charakters, nur im Rahmen globaler Institutionen und Regularien denkbar. Wie das funktionieren kann, weiß heute noch niemand. Ulrich Menzel

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