Hartz-IV-Kinder in Deutschland: 20 Euro mehr wären auch ganz nett
Armen Kindern soll mit 480 Millionen Euro mehr Bildung und Teilhabe finanziert werden. Doch was ist sinnvoll? Denn ihre Alltagssituation ist sehr speziell.
Mailin Lumme kennt ihre Klientel. Die Sozialpädagogin aus dem Nachbarschaftsheim in Berlin-Neukölln betreut Kinder bei den Hausaufgaben. "Bei uns läuft das meiste über Mund-zu-Mund-Propaganda", sagt sie, "die Eltern schicken ihre Kinder her, wenn sie von anderen Eltern davon gehört haben. Hier im Kiez sind die Strukturen sehr kleinteilig."
Lumme weiß, dass vom 1. Januar an Kinder im Hartz-IV-Bezug rechtlich verbrieft einen Anspruch auf zusätzliche sogenannte Bildungs- und Teilhabeleistungen wie Mittagessen in den Schulen, Nachhilfe- oder Sport- und Musikunterricht bekommen. In Zukunft sollen in voller Höhe auch die Kosten für einen eintägigen Schulausflug übernommen werden. Bisher war das nur für mehrtägige Klassenfahrten möglich.
Doch das Geld wird nicht direkt an die Familien ausgezahlt, sondern auf Antrag, im Regelfall beim Jobcenter, als Gutschein gewährt, der vor Ort eingelöst werden muss. Die Träger von Angeboten müssen sich dann das Geld vom Jobcenter zurückholen. Bis zum 30. April 2011 allerdings können die Jobcenter den Trägern übergangsweise auch direkt vorab Geld überweisen. Und irgendwann einmal, wenn sie erprobt ist, soll es auch eine Bildungschipkarte geben. Mit ihrer flächendeckenden Einführung ist die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) allerdings gescheitert.
Aber entspricht der neue Gesetzentwurf überhaupt der Lebensrealität der Hartz-IV-Empfänger? Lumme zögert mit der Antwort. Was die Nachhilfe betrifft, sagt sie, "da wären wir vielleicht schon froh, wenn wir noch mehr Fachkräfte hätten am Nachmittag". Eine Kollegin oder ein Kollege ist derzeit für die Hausaufgabenbetreuung von zehn Kindern zuständig.
Doch zuerst einmal sollen die Schulen mit kostenlosen Angeboten für die Lernförderung sorgen. Reicht deren Angebot nicht aus, kann es einen Gutschein für außerschulische Angebote geben. Allerdings nur in "Ausnahmefällen", so interpretiert das Ministerium seinen Gesetzentwurf. Wenn klar ist, dass ein Kind die Versetzung nicht schafft oder wenn die Lernschwäche auf "unentschuldigtem Fehlen" beruht, gibt es nichts.
Und dann die Sache mit den Sport- oder Musikkursen. Brauchen die Kinder so etwas? Im Nachbarschaftsheim bieten sie einen Trommelkurs an. Da gibt es zum Beispiel eine Siebenjährige, die hält den Rhythmus minutenlang durch, "bei der kann ich mir Instrumentalunterricht gut vorstellen", sagt Sozialpädagogin Lumme. Das öffentlich geförderte Nachbarschaftsheim bietet schon einiges an: eine Rap-, eine Hiphop- und eine Fußballgruppe oder einen offenen PC-Treff für Kinder. Die meisten Kurse sind unentgeltlich.
Im Bundeshaushalt waren bisher 480 Millionen Euro eingeplant, um Kinder im Hartz-IV-Bezug bei der Bildung besser zu fördern. Rein rechnerisch wären das bei rund 1,7 Millionen Kindern etwa 20 Euro mehr pro Kind im Monat. Wer Lumme zuhört, den beschleicht das Gefühl, dass es doch nicht verkehrt wäre, die 20 Euro mehr direkt in die Familien zu geben, anstatt sie in Bildungsgutscheine für irgendwelche Kurse zu stecken.
"Die Leute haben doch ein ganz eigenes Ausgabeverhalten", sagt Lumme. Viele der Familien im Kiez kommen aus der Türkei, aus einem arabischen Land. "Viele fahren zum Beispiel ab und zu in die Heimat, um die Familie zu besuchen. Das müssen sie sich vom Regelsatz absparen", sagt Lumme. Der Besuch mit den Enkeln bei Oma und Opa ist zentral für den Familienzusammenhalt. Doch Reisekosten sind im Hartz-IV-Regelsatz nicht enthalten.
Auch im Nachbarschaftsheim kommen einige Kinder nur deswegen nicht zum Mittagstisch, weil den Müttern die 1,60 Euro pro Essen schon zu viel sind. Doch einen Zuschuss vom Jobcenter wird es auch in Zukunft nicht geben. Die 120 Millionen Euro, die im Gesetzentwurf für einen Essenszuschuss eingeplant sind, sollen nur solche Kinder erhalten, die an einer "gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung" in einer Schule teilnehmen. Längst nicht alle Schulen bieten das überhaupt an.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Macrons Krisengipfel
Und Trump lacht sich eins
Maßnahmenkatalog vor der Bundestagswahl
Grünen-Spitze will „Bildungswende“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
USA und Russland besetzen ihre Botschaften wieder regulär
Frieden in der Ukraine
Europa ist falsch aufgestellt
Die Neuen in der Linkspartei
Jung, links und entschlossen
Gentrifizierung in Großstädten
Meckern auf hohem Niveau