■ Hans Modrows Sorge um die „DDR-Identität“: Zerbrechliches Selbstbewußtsein
Über 40 Jahre lang weigerten sich die nicht der Nomenklatura zugehörigen Einwohner der DDR stur, Bürger des „sozialistischen Staates deutscher Nation“ zu werden. Sie mißachteten selbst wohlmeinende Empfehlungen von westdeutscher Seite und bestanden schlicht darauf, Deutsche zu sein. In dem Augenblick aber, als die DDR unterging, begann DDR-Bewußtsein zu keimen. Es war ein Kind von Angst und Sehnsucht, es war das Produkt der Erfahrung, daß die Bürger der DDR sich im geeinten Deutschland als überflüssig herausstellten. Diese prekäre Gefühlslage, schlingernd zwischen Aggressivität, emotionaler Abschottung und tatenlosem Trotz, schrie geradezu danach, von interessierter Seite ausgebeutet zu werden — und dies nicht nur von rechts.
Am Wochenende ließ Hans Modrow wissen, das „Hickhack“ um Stolpe sei nicht allein dessen Problem. Der Ministerpräsident verkörpere „ein Stück DDR-Identität“. Sollte er stürzen, so werde das Selbstbewußtsein der Menschen im Osten „wieder ein Stück eingeschränkt“. Wahrhaftig ein offenherziges Bekenntnis des einstigen realsozialistischen Hoffnungsträgers! Je tiefer die Verstrickung (um das theologische Stichwort zu gebrauchen) in das Stasi-Spitzelsystem, desto dringlicher die Notwendigkeit, auf dem Posten zu verharren. Schließlich geht es nicht um „Aufarbeitung“ von Schuld, sondern darum, als Symbolfigur für all die zu figurieren, die sich ebenfalls nichts vorzuwerfen haben. „Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf Brandenburgs Ministerpräsidenten“. Das ist die Quintessenz von Modrows Identitätsbegriff. Er soll die Menschen der ehemaligen DDR autoritär auf eine Vaterfigur, auf Stolpe als ehrenhaften Weggenossen der SED-Staatsmacht, fixieren. Wieder, wie schon im Konzept der ethnischen Identität, begegnen wir der Vorstellung der geschlossenen Persönlichkeitszelle, die ihrer Prägung durch Erziehung und Geschichte nicht entrinnen kann. Nicht über die allen Widrigkeiten hinweg dem Leben abgetrotzte individuelle Biographie soll sich Identität herstellen, sondern kraft des drückenden Gewichts der „sozialistischen Lebensweise“.
Modrows Sorgen um den Erhalt von DDR-Symbolfiguren ist begreiflich. Ist doch sein Wahlkreis Neubrandenburg die Heimatstadt eines anderen Lieblingsprodukts später DDR-Identität. Die Sprinterin Katrin Krabbe fiel den ruchlosen Machenschaften westdeutscher Sportimperialisten zum Opfer und ließ ihre Fans verwaist und eines Stücks ihrer allseits entwickelten Persönlichkeit beraubt zurück. Aber keine Sorge um einen weiteren Verfall der „DDR- Identität“! Die SPD-Führung Brandenburgs ist nicht der Deutsche Leichtathletikverband! Christian Semler
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