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Archiv-Artikel

„Handschuhe sind Luxusartikel“

Keine Unterwäsche, zu große Kleidung: Unter der zunehmenden Armut leiden vor allem die Kinder, sagt Thomas Abel, Arzt und Chef einer Beratungsstelle für Risikokinder. Er fordert Schulen für Eltern

taz: Herr Abel, Sie arbeiten seit 20 Jahren für die Beratungsstelle für Risikokinder in Mitte. Was ist denn das, ein Risikokind?

Thomas Abel: Zu uns kommen vor allem Kinder aus einem schwierigen familiären Umfeld. Viele Eltern haben Drogen- oder Alkoholprobleme. In manchen Familien gibt es auch Anzeichen von Gewalt. Die Kinder haben gesundheitliche Probleme, aber auch entwicklungspsychologische Beeinträchtigungen.

Merken Sie bei Ihrer Arbeit, dass die Armut in den vergangenen Jahren zugenommen hat?

Auf jeden Fall. Wir bieten beispielsweise gespendete Kleidung und Spielzeug an, da ist der Bedarf enorm gestiegen. Manche Kinder kommen im Winter mit Gummistiefeln, weil sie keine warmen Winterschuhe haben. Andere tragen keine Unterwäsche oder haben viel zu große Kleidung an. Schals und Mützen besitzen die meisten, aber Handschuhe sind selten. Die werden offenbar immer mehr zu Luxusartikeln.

Sicherlich wirkt sich die Armut auch auf die Psyche der Kinder aus.

Natürlich. Oft fehlt es an dem, was ein Kinderleben reich macht: besondere Erlebnisse oder ganz einfach ein sinnvoll strukturierter Tagesablauf. Die Kinder werden nicht gefördert, weder ihre Handgeschicklichkeit noch ihr Denken. Wir haben hier Kinder, die ihre gesamte Freizeit vor dem Fernseher verbringen. Selbst auf den Spielplatz gehen sie fast nie. Die können mit ihren Händen nichts anfangen.

Wie sieht es mit der Ernährung aus?

Die Folge von Armut ist nicht Hunger, sondern Übergewicht. Das hat mit den Essgewohnheiten der Familien zu tun. Regelmäßige Mahlzeiten, frisches und gesundes Essen – das gibt es oft kaum. Andere Gewohnheiten haben für die Kinder aber fast noch gravierendere Folgen.

Zum Beispiel?

Wir haben nicht wenige Familien, die bereits in der dritten oder vierten Generation von Ämtern alimentiert werden. Denen ist das Gefühl für Verantwortung und Eigeninitiative irgendwann abhanden gekommen. Wie sollen die Kinder Disziplin lernen, wenn schon morgens niemand aufstehen muss, weil keiner Arbeit hat? Manchen Eltern geben wir keinen Termin vor 11 Uhr, weil wir genau wis- sen: Die schaffen das vorher nicht.

Wie helfen Sie diesen Familien?

Abgesehen von der Diagnostik und der Therapie konkreter Störungen besteht fast ein Drittel unserer Arbeit darin, den Eltern fundamentale Kenntnisse über die Bedürfnisse ihrer Kinder beizubringen. Wir vermitteln die Kinder auch an gute Kitas oder Schulen. Aber wenn die Familie nicht funktioniert, kann auch eine gute Kita kaum etwas ausrichten.

Also müssten eigentlich die Eltern in die Schule.

Genau. Wir brauchen Elternschulen – in den Kitas. Auch die Beratungsstellen, die es ja gibt, müssten in den Einrichtungen präsent sein, nicht in Amtsgebäuden. Ich habe schon vor 15 Jahren dafür plädiert, Deutschkurse für Mütter nicht in den Volkshochschulen, sondern in den Kitas anzubieten. Damals wurde ich für verrückt erklärt, heute ist das Standard.

Von wegen Deutschkurse: Sind denn die Probleme bei Migranten besonders häufig?

Nein, im Gegenteil: Manche Dinge wie eine vernünftige Ernährung funktionieren in Migrantenfamilien oft besser. Da wird noch frisch gekocht und regelmäßig gegessen.

Wie kann man Kinder vor Armut schützen?

Man braucht aufmerksame Erzieher und Sozialarbeiter, um überhaupt die Probleme zu erkennen. Leider wird aber in den Bereichen der vorschulischen Betreuung, der Kinder- und Jugendhilfe und auch der Sozialarbeit massiv gespart. Darunter leidet natürlich die Qualität der Arbeit – und damit die Versorgung der Kinder.INTERVIEW: ALKE WIERTH