Handgepäck fürs nächste Jahrtausend: Nach dem Gong
■ Angst vor der Zukunft 2000? Ein Buch hilft gegen den Zweifel
Heute dauert es noch 54 Tage, bis das Jahr 2000 beginnt. Einer, der bestimmt mit ins nächste Jahrtausend genommen wird, ist Lothar Matthäus. Auf den Sportseiten der taz zählt man ja schon den Countdown, bis der frühere Kapitän der Nationalmannschaft zu den New Jersey MetroStars nach New York überwechselt, „denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“. So steht es in der Bibel geschrieben, die Matthäus ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Was allerdings sonst noch passiert, wenn das neue Jahrtausend beginnt, darüber weiß auch die Bibel nichts.
Nichts macht den Leuten mehr Angst, als die Vorstellung, dass in der Silversternacht um punkt zwölf Uhr die Computer ausfallen könnten. Dann werden Flugzeuge vom Himmel auf die Erde stürzen, weil im Cockpit die Elektronik ausfällt; dann werden, weil die Ampelanlagen nicht mehr automatisch umschalten, betrunkene Feuerwerker auf den Straßen überfahren, während in den Limousinen, die sich unkontrolliert durch die Menge fräsen, Autofahrer daran verzweifeln, dass ihr Zigarettenanzünder nicht mehr funktioniert. Kurz darauf werden aber ohnehin Marschflugkörper mit Nuklearwaffen aus Russland und den USA auf die Städte niedergehen, weil die Sicherheitssysteme im Kreml und im Pentagon verrückt spielen. Das ist dann das Ende.
Fertigt man angesichts der Katastrophe Listen mit Handgepäck an, das in die Zukunft gerettet werden soll, steht man ziemlich ratlos da, falls sich nichts wirklich ändert. Also fängt man bei sich selbst an: weniger rauchen, weniger trinken, mehr Sport treiben, heiraten, Kinder kriegen, zumindest aber einen besseren Job. Solche Vorsätze sind müßig, sie werden jedes Jahr aufs neue gefasst und bald wieder verworfen.
Doch nichts musste dem Druck einer Neuorientierung so sehr standhalten, wie man sie vom Jahr 2000 erwartet. Selbst Christoph Schlingensief ist mit seiner Chance-2000-Partei wohlweislich schon 1998 gescheitert, um sich im „Scheitern als Chance“ eine schwache messianische Kraft zu bewahren. Was im nächsten Jahr verbockt wird, gilt gleich als Menetekel des ganzen neuen Zeitalters. Hässliche Schuhe, ein verregneter Sommer oder die schlechte Regierung sind dann nicht mehr fehlerhafte Kleinigkeiten in einem ansonsten recht passablen System unendlicher Möglichkeiten, sondern Zeichen des Schlamassels des Hier und Jetzt.
Jetzt ist allerdings noch das Jahr 1999, von dem aus die 2000 kommenden Ereignisse nicht zählen. Eher schon die Vergangenheit: „Wer heutzutage träumen will, liest Bücher über die Geschichte“, hat der französische Historiker Paul Veyne bereits in den Achtzigerjahren geschrieben. Von Zukunftsromanen war bei ihm keine Rede, denn Zukunft ist hier ein unbeschriebenes Blatt Papier.
Vielleicht sollte man ins nächste Jahrtausend das bei Merve auf deutsch erschienene Buch „Aus der Geschichte“ von Veyne mitnehmen, in dem immerhin so schöne Sätze stehen wie diese: „Auch kann das Denken sich nicht vollständig in Frage stellen, um wieder zu sich zu kommen; es kann keinen generellen Bruch bewerkstelligen, es kann nicht die Position des universellen Zweifels einnehmen. Selbst wenn es dies täte, würde es schließlich doch nicht die Wahrheit wiederfinden: es würde überhaupt nichts wiederfinden, es würde nichts mehr denken“. Vielleicht braucht man das Buch aber auch gar nicht als Handgepäck, weil es im nächsten Jahrtausend sowieso weiter zu Hause im Regal steht. Falls es dennoch mit dem letzten Glockenschlag des 31. Dezember verschwindet, sollte man nicht gleich verzweifeln – und lieber ganz schnell nachsehen, ob der Computer noch funktioniert. Oder das Denken. Wenn es dafür dann nicht zu spät ist. Oder zu früh. Harald Fricke
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