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Handbiking beim Berlin-Marathon"Verrückte Mechanismen"

Exturner Ronny Ziesmer ist seit einem Trainingsunfall schwer behindert. Auf dem Rollstuhl fährt er in Berlin den Marathon und wird zum Objekt der medialen Begierde.

"Wohlig erschöpft" - Ronny Ziesmer bei der Zielankunft des 36. Berlin-Marathons. Bild: reuters/tobias schwarz

"Verrückte Mechanismen"

AUS BERLIN JOHANNES KOPP

"Wohlig erschöpft", so beschrieb Ronny Ziesmer lächelnd seine Verfassung nach seinem ersten Marathon auf Rädern, seinem ersten Wettkampf nach seinem schweren Unfall vor fünf Jahren. Es sei dieses tolle Gefühl, das er als Leistungssportler immer wieder empfunden habe und nun wieder verspüren dürfe.

Es war im Zielbereich des Berlin-Marathons der begehrteste Interviewpartner unter den Handbikern, die per Armkraft die Pedale ihres tiefgelegten Sportrollstuhl antreiben. Dass er, der beinahe die ganze Strecke im Windschatten des vielfachen Paralympic-Champions Heinrich Köberle fuhr, mit 2:09:22 Stunden gut 60 Minuten später ankam als die schnellsten seines Fachs, spielte keine Rolle. Vergleichbar sind die Zeiten sowieso nicht. Ziesmer ist Schwersttetraplegiker. Er kann nur wenige Muskelgruppen aktivieren. Deshalb vermag er keinen Druck auf die Pedale auszuüben, er zieht sie nur an sich.

Auf Ziesmer richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit, weil der ehemalige Profiturner seit seinem Unfall vom Juli 2004 bundesweit bekannt ist. Er schlug damals nach einem Doppelsalto rückwärts mit dem Kopf auf und brach sich die Halswirbelsäule. Seitdem ist er querschnittgelähmt. Der Cottbusser stellte sich den im respektvollen Abstand verharrenden Reportern freundlich zur Verfügung: "Jetzt ist das okay, nur vor dem Rennen wollte ich nicht." Im Vorfeld des Marathons lehnte Ronny Ziesmer Medienanfragen kategorisch ab. Sein Berater Eckhard Herholz überredete Ziesmer, wegen des immensen Andrangs von seiner strikten Haltung abzusehen. Er handelte zwei, drei Termine aus und versprach ihm, in der letzten Woche bis zum Wettbewerb "seine Firewall" zu sein. Ziesmer warnte Herholz: "Wenn das schiefgeht, verlierst du mein Vertrauen."

Obschon der 30-Jährige das Mediengeschäft mittlerweile gut kennt, ist er doch verwundert über die vielen Anfragen: "Als ich in den Vor-Hambüchen-Zeiten 2003 Deutscher Mehrkampfmeister wurde, hatte sich nicht eine einzige TV-Kamera in die Halle verirrt. In dieser Woche hatten sich allein acht Fernsehsender angesagt." Ziesmer nennt das "verrückte Mechanismen", aber er habe gelernt, diese für eine gute Sache einzusetzen.

Auf dem Gebiet der Regeneration von Nervenzellen im Rückenmarkbereich ist die Forschung bereits weit gediehen. Um weitere Fortschritte zu erzielen, müsste viel Geld investiert werden. Ziesmer hat deshalb die Stiftung "Allianz der Hoffnung" gegründet. Seine Popularität dient der gute Sache.

Der Privatmann Ziesmer hat es dabei schwer. Auf die Frage, was denn der gelungene Marathon für seine Stiftung bedeute, antwortete er: "Eigentlich bin ich nur für mich gefahren." Die Rolle des Frontmanns entspricht nicht wirklich dem Naturell von Ziesmer. "Er ist gewiss keine Plaudertasche. Das ist nicht so sein Ding", räumt Herholz ein. Aber angesichts der immensen Solidarität, die er nach seinem Unfall erfahren habe, wollte er etwas zurückgeben. Herholz findet, dass sich Ziesmer sehr gut in die Rolle "hineinentwickelt" habe.

Öffentliche Präsenz zeigt Ziesmer sogar beim Turnen. Keine 24 Stunden vor dem Marathon begleitete er in der Berliner Schmelinghalle die Champions-Trophy der Turner als Kokommentator des ZDF. "Kein Problem", sagt Ziesmer. "Beim Turnen fühle ich mich besonders wohl."

Und er fühle immer noch den Leistungssportler in sich, sagte er am Sonntag. Noch würde er das Handbiken als sein "wichtiges Hobby" bezeichnen. Leistungssport sei das bislang nicht, was er mache. Aber er kann sich vorstellen, Sport wieder wie ein Profi zu betreiben. Der paralympische Weltverband hat gerade eine neue "Schadensklasse" bei den Handbikern eingeführt, die ihm auch als Schwersttetraplegiker theoretische Medaillenchancen eröffnen würde. Es müssen sich nur genug Rollstuhlfahrer anmelden. "Das wäre natürlich schon ein schönes Ziel", sagt Ziesmer.

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