Halle-Prozess wird fortgesetzt: Es reicht nicht ‚Nie wieder‘ zu sagen

Die Initative begleitet den Gerichtsprozess gegen den antisemitischen Täter von Halle. Ein Gastbeitrag.

Nur die Holztür der Synagoge von Halle beschütze die rund 50 Gäste an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Bild: Wikipedia

Ein Gastbeitrag von Initiative 9. Oktober Halle

Ein Jahr ist vergangen seit dem 9. Oktober 2019, seit dem antisemitisch, rassistisch und antifeministisch motivierten Anschlag auf die Synagoge und den Kiez-Döner in Halle. Es ist ein Jahr vergangen seit Jana Lange und Kevin Schwarze ermordet und zahlreiche weitere sichtbar und unsichtbar verletzt wurden.

Am Dienstag, den 13. Oktober, wird der Prozess gegen den extrem rechten Attentäter von Halle nach einer zweiwöchigen Pause wiederaufgenommen. Seit Juli dieses Jahres wird vor dem Oberlandesgericht Naumburg verhandelt, aus Platzgründen in Räumen des Landgerichts Magdeburg. Initiativen begleiten den Prozess von Anfang an, organisieren Kundgebungen vor dem Gericht, dokumentieren den Prozess und zeigen sich mit den Betroffenen und Nebenkläger:innen solidarisch. So auch wir als Initiative 9. Oktober Halle.

Wir haben uns Anfang dieses Jahres zusammengefunden, weil wir nicht in einer Stadt leben möchten, in der nach dem 9. Oktober 2019 alles einfach weiterläuft wie zuvor. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass die Bedingungen extrem rechten Terrors benannt und kritisiert werden.

Anders als beim NSU-Prozess gibt es in diesem Prozess mehr Raum für kritische Stimmen von Nebenkläger:innen und deren Anwält:innen. Dennoch beobachten wir auch hier, wie die Ermittlungsbehörden und das Gericht noch immer an der Vorstellung festhalten, der Attentäter habe sich sozial isoliert radikalisiert und die Tat ganz allein vorbereitet und geplant.

Die Einzeltäterthese

Deutlich wird das, wenn das Bundeskriminalamt weniger zu den Online-Aktivitäten des Angeklagten ermittelt als es Journalist:innen tun, wenn Beamte des Bundeskriminalamtes vor Gericht das „White Power“ Handzeichen nicht erkennen wollen, wenn sie wiederholt nur darüber sprechen, was sie nicht wissen, wofür sie nicht zuständig sind oder woran sie sich nicht erinnern können.

Die vorsitzende Richterin Ursula Mertens bemüht sich indessen, empathisch zu sein und wirkt doch nicht selten unvorbereitet und leichtfertig. Es ist einzig dem Engagement der Nebenklageanwält:innen und den Nebenkläger:innen zu verdanken, dass die Einzeltäterthese hinterfragt wird, dass mögliche Vernetzungen des Angeklagten aufgezeigt und gesellschaftliche Bedingungen der Tat thematisiert werden.

Indem der Attentäter als isolierter Einzeltäter betrachtet wird und es lediglich um seine individuelle Schuld gehen soll, ist eine Abgrenzung von ihm möglich: auf der einen Seite die „gute“ demokratische Mehrheitsgesellschaft, auf der anderen Seite der „böse“ antisemitische und rassistische Einzeltäter.

Wir glauben, diese Sichtweise ist fatal. Der Attentäter hat in die Tat umgesetzt, was nicht wenige Menschen in diesem Land zu denken scheinen. Darüber muss gesprochen werden, wenn es Aufklärung und Aufarbeitung geben soll.

Kritik am offiziellen Gedenken der Stadt Halle

„Es reicht schon lange nicht mehr ‚Nie wieder‘ zu sagen, wenn daraus keine Taten folgen.“ Das sagte Christina Feist, Überlebende des Anschlags und Nebenklägerin am Prozessbeginn. Einem ernst gemeinten ‚Nie wieder‘ müssen Veränderungen folgen, dafür bräuchte es ehrliche Selbstkritik auch von staatlicher Seite.

Stattdessen aber veranstalteten die Stadt Halle und das Land Sachsen-Anhalt am vergangenen Freitag einen Gedenktag, bei dem Perspektiven von Betroffenen des Anschlags vernachlässigt wurden. Zwar erhielten mit İsmet Tekin, dem Betreiber des Kiez-Döner, und Max Privorozki, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Halle, zwei Betroffene die Möglichkeit, im Rahmen des offiziellen Gedenkens zu sprechen.

Jedoch wurde Grundlegendes zu wenig berücksichtigt. So ist mit der Wahl der Ulrichskirche als Raum für das offizielle Gedenken und dem Läuten der Kirchenglocken zum Zeitpunkt der ersten Schüsse einem antisemitischen Anschlag mit christlicher Symbolik gedacht worden, was von einigen Betroffenen als unangemessen kritisiert wurde.

Zu wenig bedacht blieben auch die Betroffenen, die der Täter auf seiner Flucht teilweise schwer verletzte, wie die zwei Personen, die in Landsberg-Wiedersdorf südlich von Halle angeschossen wurden. Erst auf eigene Nachfrage wurden sie zum Gedenkakt eingeladen. 

Kein Schlusstrich

Der Tatort des rassistischen Mordversuchs an Aftax I., den der Attentäter nur unweit von Synagoge und Kiez-Döner anfuhr, blieb im Rahmen des staatlichen Gedenkens gänzlich ausgespart. Diese Leerstelle manifestiert sich auch an der Gedenkplakette, die vor dem Kiez-Döner enthüllt wurde. Die rassistische Tatmotivation des Anschlags bleibt darauf einfach unerwähnt.

Dies alles wirft die Frage auf, für wen solch ein offizieller Gedenkakt eigentlich veranstaltet wird. Uns scheint, es geht dabei vor allem um die Selbstvergewisserung eines Landes, das sich als demokratisch und weltoffen versteht.

Eines haben die offiziellen Gedenkveranstaltungen und der Gerichtsprozess gemeinsam: Beide sind irgendwann vorbei. Ein Schlussstrich aber kann nicht gezogen werden, weder nach dem Gedenken zum Jahrestag, noch nach der Urteilsverkündung im Prozess. Der Attentäter ist mit seinen antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Überzeugungen ist Teil dieser Gesellschaft. Um diese zu verändern, braucht es mehr als Blumenkränze und warme Worte

Ein Gastbeitrag der Initative 9. Oktober Halle. Die Redaktion der taz macht sich die Aussagen von Gastautor:innen nicht notwendigerweise zu eigen.

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