Hafenerweiterung Antwerpen: Die Fata Morgana im Polder

Das Dorf Doel soll dem Ausbau des Antwerpener Hafens weichen. Die Bewohner wehren sich in dritter Generation. Der Überlebenskampf hat Spuren hinterlassen.

Blick vom Deich auf Doel, im Hintergrund die Kräne des Hafens. Bild: Alexander Stein

DOEL taz | Das Schild kommt unerwartet in diesem Archipel der Containerberge, die sich blau und dunkelrot längs der Straße auftürmen. Überall recken Kräne ihre verwinkelten Glieder in den dunstigen Himmel, und hinter jeder Kurve tauchen neue Verladestationen auf.

Doch genau hier, wo bis zum Horizont alles Hafen ist, steht an einer Kreuzung ein gelbes Schild, zwei Meter hoch, mit einer Gleichung: „Doel = bewohntes Dorf“ liest es sich holprig, und dann: „respektier die Bewohner“. Es folgt die polizeiliche Warnung, die Häuser nicht zu betreten. Hohes Gras säumt die Straße, die ins Dorf führt.

Ein Schild hängt auch an der Tür von Emilienne Driessen in der Camermanstraat. „Dieses Haus ist noch bewohnt“, steht darauf. Zweifellos ist es das, der gepflegte dunkle Klinker hat nichts gemein mit den brüchigen Fassaden ringsum. Gleich nebenan, gegenüber der Kirche, liegt eine bewachsene Brache. An die Rückwand eines Nachbarhauses hat jemand in riesigen blauen Lettern „Doel blijft“ gesprüht. Und solange Doel bleibt, bleibt auch Emilienne Driessen, eine kleine alte Dame mit geknotetem Haar und dezentem Schmuck. Ihr ganzes Leben hat sie in dem Polderdorf an der Schelde verbracht. Im Frühjahr wurde sie 80.

Nun ist das mit dem Bleiben hier so eine Sache: Eigentlich nämlich soll Doel, in dessen niedrigen Backsteinhäusern einst mehr als 1.000 Menschen wohnten, verschwinden. Darauf drängt jedenfalls die Regierung der belgischen Region Flandern, um dem Hafen von Antwerpen Raum zum Wachsen zu geben. Fast ein halbes Jahrhundert schon steht Doel verschiedenen Großprojekten im Weg. Wurde eines aufgegeben, kündete die Regierung bald das nächste an und ließ sich im Lauf der Jahre eine Menge einfallen, die Bewohner zu vertreiben.

Noch 26 Bewohner

Das Dorf: Doel liegt in einem Polder am Nordwestrand des Hafens von Antwerpen, rund 30 Kilometer von der Metropole entfernt. Im frühen 20. Jahrhundert machte die Lage am Scheldeufer Doel zum Wochenendziel vieler Antwerpener.

Der Hafen: In den 60er Jahren sollte Doel erstmals der Vergrößerung des Hafens weichen. Ende der 70er Jahre wurde der Plan mangels wirtschaftlicher Perspektiven aufgegeben. 1998 wollte die flämische Regionalregierung Doel zugunsten eines neuen Docks abreißen lassen. Das Dock wurde gebaut, die Protestbewegung Doel2020 konnte vor Gericht die Zerstörung des Dorfs verhindern.

Das Ende: Im Konkurrenzkampf europäischer Häfen soll Doel nun dem größten Gezeitencontainerdock der Welt Platz machen. Experten warnen wegen der schlechten Wirtschaftslage vor dem Projekt, dennoch stimmte die flämische Regierung Ende April ihm zu. Doel und umliegende Weiler sollen verschwinden. Doel2020 will beim höchsten Verwaltungsgericht Einspruch einlegen. (tm)

Der Überlebenskampf hat Spuren hinterlassen: Fast alle Häuser stehen heute leer, rund 40 wurden bereits abgerissen. 26 Bewohner leben noch in dem Geisterdorf. Für Emilienne Driessen wurde Doel zum persönlichen Freilichtmuseum, denn all ihre Freundinnen sind weggezogen. „Angèle war die Erste, vor 26 Jahren. Danach kamen Suzanne, Maria, meine beste Freundin José und auch meine Schwester.“ Schatten zeichnen sich draußen vor dem Wohnzimmerfenster von Emilienne Driessen ab. Wie jeden Sonntag streifen Hobbyfotografen durch die verlassenen Straßen Doels. Ein bewohntes Haus ruft Neugier hervor.

„Es stört mich nicht, wenn sie gucken“, sagt Emilienne Driessen und blickt kurz auf, während sie Weißwein auf den Tisch stellt und sich noch eine Zigarette anzündet. Wovon ihr der Kardiologe nach ihrem Herzanfall abriet, aber die eigensinnige Emilienne, in deren Erzählungen das schwere belgische Trappistenbier ein Leitmotiv ist, lässt sich von Ärzten nicht bange machen. Unten an der Schelde steigt der Wasserdampf aus den beiden Kühltürmen des AKWs, für das Doel in ganz Belgien bekannt ist. In ihrem Wohnzimmer qualmt Emilienne Driessen unbeirrt vor sich hin.

Einschüchtern konnte sie auch der Gerichtsvollzieher nicht, der vor einigen Jahren auftauchte und drohte, ihren Besitzstand mitzunehmen. „Mach doch“, entgegnete die Witwe kühl. Seither hat sie ihn mehr gesehen. „Sie machen den Menschen Angst, aber ich glaube ihnen nicht.“ Sie, das ist die „Gesellschaft Linkes Scheldeufer“, die von der Regierung mit der Hafenerweiterung beauftragt wurde. Dazu gehört auch, die Hauseigentümer herauszukaufen. Gemeinsam mit ihrem Mann, der wenig später verstarb, nahm Driessen das Angebot an. Bis in Doel die Bulldozer anrücken, wohnt Emilienne Driessen mietfrei. Gehen will sie erst, „wenn sie mich rausschmeißen“.

Natürlich sind da die Erinnerungen, von denen sie sich nicht trennen will. Die Bilder von einer Zeit, in der das Dorf voll Leben war und, wie sie sagt, „plaisanter“. Als ihre Kinder hier zur Schule gingen, der Sohn im Fußballclub spielte, als es Bäcker, Supermarkt und Schuhgeschäft gab, als sie auf Kostümbällen tanzte – „und wir in dieser Straße sechs Cafés hatten“. Heute bringt die Tochter sie zum Einkaufen ins nächste Dorf. Statt ihrer Freundinnen hat Emilienne Driessen nun zehn zurückgelassene Katzen, die sie mit Futter und Wasser versorgt.

Der Nachwuchs

Solange sich Denis Malcorps erinnern kann, ziehen die Menschen aus Doel weg. Er war fünf Jahre alt, als seine Eltern in den frühen 90ern aus Antwerpen hierherzogen. Die ersten Ausbaupläne für den Hafen waren gerade abgewendet, junge Familien zogen in den Polder. Heute studiert der 24-Jährige in Leuven Ökonomie. Er, seine Mutter und der jüngere Bruder sind die letzten Nachbarn von Emilienne Driessen in der Camermanstraat. Bleiben wollen auch sie.

Genau darum steht Denis Malcorps nun in Stiefeln und Kapuzenpullover unten am Deich auf einer triefnassen Wiese. Ein paar Mitstreiter sind da, junge Leute wie er, aus den Siedlungen der Umgebung, die ebenfalls dem Hafen weichen sollen. Alle tragen Arbeitskleidung. „Die dritte Generation“ nennen sie sich, ein Name, der zeigt, wie lange sich Doel schon gegen sein Ende stemmt. Die Jungen springen den Veteranen der Bürgerinitiative Doel2020 in ihrem endlosen Rechtsstreit bei, verfassen Beschwerdeschriften und stellen Filme ins Internet, die auf den bedrohten Polder aufmerksam machen.

Nun aber legt die „Dritte Generation“ letzte Hand an etwas, was sie „Gedichtweide“ nennen. Denis Malcorps weist auf die Tafeln, die im Kreis auf der Wiese aufgestellt sind. Plastikfolie schützt sie vor dem Polderregen. Darunter befinden sich 26 lyrische Bestandsaufnahmen verschiedener Dorfdichter. Es mag schlecht aussehen für Doel; sein 400. Geburtstag soll diesen Sommer trotzdem gefeiert werden, und die Gedichtweide macht den Auftakt. „Wir wollen Doel positiv ins Bild setzen“, sagt Denis Malcorps. „In den letzten Jahren verbindet man vor allem Verfall und Vandalismus mit dem Namen.“

400 Jahre Geschichte

Die Gedichte lesen sich dennoch eher wie ein unfreiwilliger Abgesang auf Doel. Denis Malcorps teilt den Pessimismus nicht. Selbst jetzt nicht, nachdem die Regierung Ende April bekannt gegeben hat, dass sie den Plan zur Hafenerweiterung realisieren lässt. „Die ganze Zeit sagen sie, dass wir wegmüssen“, hebt er an und klingt mit einem Mal wie ein alter Kämpfer. „Wieso sollte ich jetzt daran glauben?“ Soeben hat ein Transporter einen Berg Rindenmulch abgeladen, den die anderen mit dem Spaten verteilen, damit die Besucher trockenen Fußes die Lyriktafeln erreichen können.

Dann wird Denis Malcorps doch nachdenklich. 26 Bewohner zählt Doel noch, vor drei Jahren waren es doppelt so viele. „Einerseits“, meint er, „wird unser Verhältnis immer enger. Aber das, was eine Gemeinschaft ausmacht, fällt doch langsam auseinander.“ Ein normales Leben, ein normaler Alltag ist in Doel nicht möglich.

Nachts dringen Vandalen in Doel ein, auf der Suche nach ein bisschen Zerstörung. Am Wochenende kommen Touristen, auf der Suche nach einem guten Bild. Sogar ein paar Alteisenhändler musste Denis Malcorps schon verjagen, die das Haus seiner Familie für unbewohnt gehalten hatten.

In den Straßen von Doel scheinen sich seine Worte zu bestätigen. Fast alle Eingänge sind mit hellen Holzplatten verrammelt, viele Fenster im Erdgeschoss ebenso. Am frühen Abend verstummen die Motorengeräusche, die eben noch vom Dock herüberwehten. Nur Vogelstimmen füllen die Luft. Beinahe schon surreal wirkt der Mann, der mit seinem Hund zwischen den Häusern zum Deich geht. Oben dampfen die Kühltürme, und drüben, am anderen Ufer der Schelde, leuchten im Rauch der Schornsteine die roten Lichter der Raffinerien auf. Wer sich jetzt umdreht, könnte Doel für eine Fata Morgana halten.

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