: Häuserräumung führte zu Straßenschlacht
■ Polizei räumte friedlich Häuser im Ostteil Berlins/ Polizeitaktischer Fehler?/ Nach Eskalation befürchteten andere Besetzer eigene Räumung
Berlin. Zum ersten Mal seit dem der Senat die Polizeihoheit für ganz Berlin übernommen hat, wurden gestern in Lichtenberg zwei besetzte Häuser geräumt. Rund 260 Beamte umstellten am frühen Morgen weiträumig die Häuser in der Pfarrstraße, nachdem die Lichtenberger Wohnungsbaugesellschaft — Rechtsträger der Gebäude — den Besetzern einen Räumungsbescheid zukommen ließ. Für eines der geräumten Häuser hatte bereits der Sozialdiakon der evangelischen Erlöser-Gemeinde, Michael Heinisch, einen Mietvertrag. Dort wollte er ein Sozialisierungs- und Wohnprojekt mit sogenannten rechtsradikalen Jugendlichen realisieren. Heinisch erklärte der taz, daß sein Projekt die Räumung nicht gewollt habe.
Nachdem sich in der Besetzerszene die Nachricht von der Räumung verbreitet hatte, kam es in der Frankfurter Allee zu einer Sympathiedemonstration. Weil einige Besetzer die Straße mit Bauabsperrungen und Nagelbrettern blockierten, rückte die Polizei mit Wasserwerfern und einem Räumpanzer an. Nach Darstellung des Sprechers der Innenverwaltung, Werner Thronicker, sei nur eine geringe Anzahl von Kräften eingesetzt worden, die dann mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen worden sei. Daraufhin drängten die Polizei-Hundertschaften die Demonstranten unter Einsatz von Tränengas in die Mainzer Straße ab, in der zwölf Häuser besetzt sind. Während die Polizei gezielt Tränengasgranaten auf offen stehende Fenster der besetzten Häuser abschoß, warfen die Besetzer Pflastersteine und schossen mit Leuchtraketen auf die Beamten. Der durch die Mainzer Straße fahrende Räumpanzer soll rücksichtslos Privatautos von der Straße gedrückt haben. Aus Angst vor der Räumung ihrer Häuser in der Mainzer Straße, so fünf Besetzer auf einer gestrigen Pressekonferenz, schoben sie Müllcontainer und Autos auf die Straße, um weitere Polizeieinsätze zu verhindern. Erst dem eintreffenden Bezirksbürgermeister Mendiburu (SPD) gelang es, die Besetzer vorläufig zu beruhigen. Er versicherte, daß an eine Räumung der Mainzer Straße nicht gedacht sei.
Trotzdem eskalierte gestern nachmittag die Situation weiter. Zwölf Personen wurden festgenommen. Ob sie dem Haftrichter vorgeführt werden sollen, war gestern nicht zu erfahren. Thronicker erklärte, daß die Besetzer trotz des Gesprächs mit Mendiburu die Barrikaden immer weiter aufgetürmt hätten. Die Bewohner aus der Mainzer Straße erklärten dagegen, daß sie versucht hätten, die Einsatzleitung der Polizei zu erreichen. Doch örtliche Polizeikräfte seien nicht bereit gewesen, eine Verbindung mit ihrer Führung herzustellen. Aufgrund des massiven Polizeiaufgebots seien die Bewohner von einer geplanten Räumung überzeugt gewesen.
In den Abendstunden wurden mit einem Bagger quer über die Mainzer Straße ein 50 Zentimeter tiefer Graben gebuddelt. Gleichzeitig packten Nachbarn ihre Koffer. Die Mutter einer vierköpfigen Familie aus der angrenzenden Scharneweber Straße war fassungslos: „Unsere Kinder weinen nur noch.“ Die Knirpse sahen, wie Polizisten mit Steinen beworfen wurden. Die Familie zog gestern zu Verwandten. In ihren drei Koffern hatten sie „nur das wichtigste“. Die Besetzer erklärten dazu, daß sie die Eskalation nicht gewollt hätten. Sie seien selbst erschrocken, welche Eigendynamik die Ereignisse angenommen haben. Sie wollen eine Zusage des Senats, daß sie nicht geräumt werden — dann bauen sie die Barrikaden wieder ab.
Innensenator Erich Pätzold (SPD) kündigte gestern abend an, daß das Gerücht einer Räumung „jeder Grundlage“ entbehre. Thronicker sagte der taz, daß die Barrikaden aber auf keinen Fall hingenommen würden. Olaf Kampmann/Dirk Wildt
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen