piwik no script img

Häftlingsrevolte drastisch ausgeweitet

■ In 20 DDR-Haftanstalten wird protestiert/ Amtierender DDR-Justizminister lehnt „Jubelamnestie“ ab

Berlin (adn/taz) — Die Häftlingsrevolte in der DDR hat sich am Sonntag drastisch ausgeweitet, nachdem der amtierende Justizminister Manfred Walther am Vortag eine „Jubelamnestie“ abgelehnt hatte. Walther hatte angekündigt, daß in jedem Einzelfall die Möglichkeit der Strafaussetzung auf Bewährung geprüft werden könne. Der Gesetzgeber dürfe sich aber „keinesfalls erpressen lassen“. Ein Amnestieakt sollte vom Bundestag vollzogen werden. Die Inhaftierten verlangten eine Überprüfung ihrer Urteile nach rechtsstaatlichen Grundsätzen, solange es die DDR noch gibt.

Einige hundert Strafgefangene beteiligten sich in rund 20 Einrichtungen in der gesamten DDR an Dachbesetzungen, Hunger- und Sitzstreiks. Sie fordern eine allgemeine Amnestie und die Überprüfung ihrer Urteile, um im vereinigten Deutschland die „Chance zu einem neuen Leben“ zu erhalten.

Allein in Bautzen, Brandenburg, Ost-Berlin, Magdeburg, Halle, Stollberg sowie Waldheim bei Leipzig und Bützow im Bezirk Schwerin beteiligen sich mehr als 200 Häftlinge an Protestaktionen. 133 Häftlinge befinden sich in den Anstalten dort im Hungerstreik, mehr als 50 halten Dächer besetzt.

35 Insassinnen des Frauengefängnisses Stollberg sind in einen Sitzstreik getreten.

In der Untersuchungshaftanstalt Frankfurt/Oder demolierten Häftlinge Räume, zerstörten Glasbausteine und Fenstergitter und warfen brennende Gegenstände aus den Fenstern. Sie reagierten damit auf die Äußerung des Justizministers im DDR-Fernsehen, daß es unter den derzeit in der DDR etwa 4.250 Inhaftierten keine politischen Häftlinge mehr gebe.

Auch in anderen Haftanstalten war es daraufhin zu neuen Unruhen und heftigen Protesten gekommen. Auf die Gefahr der Konfrontation zwischen Beamten und Gefangenen wiesen die Strafvollzugsbediensteten der Haftanstalt Brandenburg hin, wo am vergangenen Mittwoch die Revolte ihren Anfang nahm.

Die sieben Dachbesetzer und 98 hungerstreikende Inhaftierte dort vertrauten den Worten von DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel, der ihnen zugesichert habe, sich ihrer Sache anzunehmen, erklärte der Gefangenenrat.

Alle 90 Gefangenen des ehemaligen Pankower Stasi-Gefängnisses, das seit Juli Untersuchungshaftanstalt ist, wandten sich gegen ihre geplante Verlegung nach West-Berlin — auch aus Angst vor Aids und Drogen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen