■ H.G. Hollein: Unzeitgemäß
Der Fernseher, vor dem ich gläubig sitze, macht mich derzeit virtuell frösteln. Denn: Weihnachten steht vor der Tür. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich die Erdachse beim sogenannten Milleniums-Wechsel unbemerkt um ein paar Grad und in Folge dessen der Kalender um ein dreiviertel Jahr vorgeprescht ist, flimmerte am vergangenen Montag bei Pro 7 über den Schirm. Hieß es doch um 19 Uhr bei Al Bundy: „Frohe Weihnachten – Al will Geschenke kaufen, doch Marcy ist blau und rückt das Geld nicht raus.“ Neben der verhassten Aussicht, sich schon wieder in die Weihnachts-einkäufe stürzen zu müssen, muss in diesem Zusammenhang das Motiv des Alkohol-Abusus besorgt stimmen. Folgte doch gleichen Tags um 22 Uhr 10 auf Super RTL „Melrose Place“ (113) mit dem stimmungsvollen Plot: „Kyle ist Heiligabend so betrunken, dass er nicht bemerkt, wie Taylor die Kasse mit den Einnahmen des Jazz-Konzertes entwendet.“ Daran knüpfte am nächsten Tag nahtlos der „Rockpalast“ des WDR an und sendete um 20 Uhr 15 das Düsseldorfer „Christmas-Special“ der Gruppe „Supergrass“. Nur leicht zurück lag an diesem Tag Pro 7 mit der wöchentlichen Dosis „Emergency Room“, zu der es hieß: „Es ist Halloween ...“ Meines Wissens liegt das Ende Oktober und leitet die dunkle, die heimelige Zeit der Vorfreude aufs Christkind ein. Anzeichen eines feinsinnigen, wenn auch vielleicht etwas bizarren Humors, zeigt hingegen die Programmdirektion der ARD. In der Nacht zum 26. März beginnt die Sommerzeit. Was läge da näher, als am folgenden Donnerstag „Stille Nacht“ auszustrahlen, ein „Showdown unterm Christbaum“, dem die „Fernsehwoche immerhin vier Punkte für Erotik gibt. Gut denn: Sex, Suff und Supergrass, derweil bei stetig steigenden Temperaturen in der Glotze süsser die Glocken nie klingen. Aber klagte nicht schon Hamlet: „Verfluchte Zeit, die aus der Bahn, dass sie zu richten auf die Welt ich kam.“
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